Das dritte Kapitel
Geralt hatte Grund zu der Annahme – und nahm tatsächlich an –, die Bankette der Zauberer würden sich von den Empfängen und Festmählern gewöhnlicher Sterblicher unterscheiden. Er hatte jedoch nicht vermutet, dass die Unterschiede gar so groß und grundlegend sein würden.
Der Vorschlag, Yennefer bei dem Bankett, das der Zusammenkunft der Zauberer voranging, Gesellschaft zu leisten, kam für ihn überraschend, verwirrte ihn aber nicht allzu sehr. Es war ja nicht der erste Vorschlag dieser Art. Schon früher, als sie zusammenwohnten und zwischen ihnen alles gut stand, wollte Yennefer in seiner Begleitung auf Zusammenkünfte und Kongresse gehen. Damals hatte er jedoch prinzipiell abgelehnt. Er war überzeugt, dass man ihn unter den Zauberern bestenfalls als Wundertier und Sensation behandeln würde, schlimmstenfalls als Eindringling und Paria. Yennefer machte sich über seine Befürchtungen lustig, insistierte aber nicht. Da sie in anderen Situationen derart zu insistieren verstand, dass die Wand wackelte und Glas rieselte, fand sich Geralt in seiner Ansicht bestätigt, dass seine Entscheidung richtig war.
Diesmal willigte er ein. Ohne zu überlegen. Der Vorschlag fiel nach einem langen, offenen und emotionsgeladenen Gespräch. Nach dem Gespräch, das sie einander wieder nahebrachte, die früheren Konflikte in den Schatten und ins Vergessen rückte, das Eis von Bedauern, Stolz und Voreingenommenheit zum Schmelzen brachte. Nach dem Gespräch auf dem Damm in Hirundum hätte Geralt jedem, absolut jedem Vorschlag vonseiten Yennefers zugestimmt. Er hätte nichts abgeschlagen, selbst wenn sie ihm einen gemeinsamen Besuch in der Hölle vorgeschlagen hätte, um in Gesellschaft von Feuerdämonen ein Tässchen kochendes Pech zu trinken.
Und da war noch Ciri, ohne die es nicht zu diesem Gespräch, zu der Begegnung gekommen wäre. Ciri, für die sich Codringher zufolge irgendein Zauberer interessierte. Geralt rechnete damit, dass seine Anwesenheit auf der Zusammenkunft den Zauberer provozieren und zum Handeln zwingen würde. Doch Yennefer sagte er davon kein Wort.
Von Hirundum ritten sie direkt nach Thanedd, er, sie, Ciri und Rittersporn. Zunächst hielten sie sich im riesigen Palastkomplex von Loxia auf, der südöstlich am Fuße des Berges lag. Der Palast wimmelte schon von Gästen der Zusammenkunft und von den sie begleitenden Personen, doch für Yennefer fand sich sofort eine Unterkunft. Sie blieben einen ganzen Tag in Loxia. Geralt verbrachte diesen Tag mit Gesprächen mit Ciri, Rittersporn mit Herumlaufen, Sammeln und Verbreiten von Gerüchten, die Zauberin mit dem Anprobieren und Aussuchen von Kleidern. Doch als es Abend wurde, schlossen sich der Hexer und Yennefer dem bunten Zug an, der nach Aretusa unterwegs war – zu dem Palast, in dem das Bankett stattfinden sollte.
Und jetzt in Aretusa wunderte sich Geralt und kämpfte mit der Überraschung, obwohl er sich vorgenommen hatte, sich über nichts zu wundern und sich von nichts überraschen zu lassen.
Der riesige zentrale Saal des Palasts war in Form des Buchstaben T gebaut. Der längere Zweig hatte Fenster, die schmal und unwahrscheinlich hoch waren, bis fast unter die von Säulen getragene Decke reichten. Die Decke war ebenfalls hoch. So hoch, dass man nur schwer Einzelheiten der Fresken ausmachen konnte, mit denen sie geschmückt war, insbesondere das Geschlecht der Nackedeis, die das am häufigsten wiederkehrende Motiv der Malerei bildeten. In den Fenstern waren bleigefasste Buntglasbilder, die ein wahres Vermögen gekostet haben mussten, dennoch war in der Halle ein deutlicher Luftzug zu spüren. Geralt wunderte sich, dass die Kerzen nicht erloschen, doch bei genauerer Beobachtung erkannte er den Grund. Die Kandelaber waren magisch, vielleicht sogar illusorisch. Jedenfalls spendeten sie reichlich Licht, unvergleichlich mehr als Kerzen.
Als sie eintraten, befand sich schon ein gutes Hundert Leute in dem Saal, der, wie Geralt schätzte, mindestens dreimal so viel hätte fassen können, selbst wenn in der Mitte, wie es der Brauch gebot, Tische in Form eines Hufeisens aufgestellt worden wären. Doch das traditionelle Hufeisen fehlte völlig. Es sah danach aus, als würde man im Stehen speisen müssen, dabei an den Wänden entlangwandern, die mit Gobelins, Girlanden und in der Zugluft wogenden Bannern geschmückt waren. Unter den Gobelins und Girlanden waren Reihen langer Tischchen aufgestellt. Und auf den Tischchen lagen raffinierte Speisen auf noch raffinierterem Geschirr inmitten raffinierter Blumenkompositionen und raffinierter Eisskulpturen. Geralt stellte fest, dass die Raffinesse die Menge der Speisen bei weitem überwog.
»Es gibt keinen Tisch«, konstatierte er mürrisch, während er die kurze, schwarze, silbern abgesetzte und taillierte Jacke glattstrich, mit der ihn Yennefer ausstaffiert hatte. So eine Jacke, die der neueste Modeschrei war, wurde Doublett genannt. Der Hexer hatte keine Ahnung, woher diese Bezeichnung stammte. Und er wollte es auch nicht wissen.
Yennefer reagierte nicht. Geralt hatte keine Reaktion erwartet, er wusste sehr wohl, dass die Zauberin auf derlei Feststellungen nicht zu reagieren pflegte. Doch er gab nicht auf. Er nörgelte weiter. Er hatte einfach Lust, ein bisschen zu nörgeln. »Es gibt keine Musik. Es zieht wie Hechtsuppe. Man kann sich nirgends setzen. Werden wir im Stehen essen und trinken?«
Die Zauberin bedachte ihn mit einem schmachtenden veilchenblauen Blick. »Natürlich«, sagte sie unerwartet ruhig. »Wir werden im Stehen essen. Du solltest auch wissen, dass ein längerer Aufenthalt an den Tischen mit den Speisen als taktlos gilt.«
»Ich werde mich bemühen, taktvoll zu sein«, murmelte er. »Zumal es nichts gibt, wo man sich besonders aufhalten könnte, wie ich sehe.«
»Unmäßiges Trinken gilt als sehr taktlos«, setzte Yennefer die Belehrung fort, ohne sein Murren im mindesten zu beachten. »Einem Gespräch aus dem Wege zu gehen, gilt als unverzeihlich taktlos.«
»Und dass dieser Hänfling«, unterbrach er sie, »in der idiotischen Hose mich gerade mit dem Finger seinen beiden Kumpels zeigt, gilt das als taktlos?«
»Ja. Aber als Bagatelle.«
»Was werden wir tun, Yen?«
»Im Saal umhergehen, Leute begrüßen, Komplimente austeilen, Konversation machen ... Hör auf, das Doublett zurechtzuziehen und die Haare zurückzustreichen.«
»Du hast mir nicht erlaubt, das Stirnband anzulegen ...«
»Dein Stirnband ist anmaßend. Na, fass mich unter und lass uns gehen. Beim Eingang stehenzubleiben, gilt als taktlos.«
Sie streiften durch den Saal, der sich allmählich mit Gästen füllte. Geralt war wahnsinnig hungrig, stellte aber rasch fest, dass Yennefer nicht gespaßt hatte. Es wurde offensichtlich, dass die unter den Zauberern verbindlichen Formen verlangten, dass man wenig aß und trank, und das scheinbar widerwillig. Zu allem Übel zog jeder Aufenthalt an einem Tisch mit Speisen gesellschaftliche Verpflichtungen nach sich. Jemand bemerkte die beiden, zeigte sich erfreut darüber, kam heran und begrüßte sie ebenso weitschweifig wie unaufrichtig. Auf das obligatorische Vortäuschen eines Kusses auf die Wange und einen unangenehm weichen Händedruck, ein geheucheltes Lächeln und erst recht geheuchelte, aber gut erfundene Komplimente folgte ein kurzes und langweiliges Gespräch über nichts.
Der Hexer schaute sich sehnsüchtig nach bekannten Gesichtern um, hauptsächlich in der Hoffnung, nicht die einzige Person zu sein, die nicht zur Bruderschaft der Zauberer gehörte. Yennefer hatte ihm versichert, er werde nicht der Einzige sein, dennoch hatte er bisher entweder niemanden von außerhalb der Bruderschaft gesehen oder niemanden zu erkennen vermocht.
Pagen trugen auf Tabletts Wein herum, wobei sie zwischen den Gästen lavierten. Yennefer trank überhaupt nichts. Der Hexer hätte gern etwas getrunken, kam aber nicht dazu. Also würde ihn, wenn ihn schon das Doublett unter den Achseln drückte, wenigstens nicht die Blase drücken. Geschickt mit dem Arm steuernd, an dem er sie untergefasst hielt, zog ihn die Zauberin vom Tisch weg und führte ihn in die Mitte des Saales, mitten hinein ins Zentrum des allgemeinen Interesses. Widerstand war zwecklos. Er begriff, worum es ging: Es war eine ganz simple Demonstration.
Geralt wusste, was zu erwarten stand, also ertrug er mit stoischer Ruhe die von ungesunder Neugier erfüllten Blicke der Zauberinnen und das rätselhafte Lächeln der Zauberer. Obwohl ihm Yennefer versichert hatte, dass Herkommen und Takt es verboten, bei solchen Veranstaltungen Magie zu benutzen, glaubte er nicht, dass sich die Magier zurückhalten könnten, zumal Yennefer ihn provokant zur Schau stellte. Ein paarmal spürte er, wie das Medaillon zuckte und magische Impulse ihn berührten. Einige Zauberer – und insbesondere Zauberinnen – versuchten dreist, in seinen Gedanken zu lesen. Er war darauf vorbereitet, wusste, worum es ging, wusste, wie er parieren musste. Er betrachtete die an seiner Seite gehende Yennefer, die weiß-schwarz-brillantene Yennefer mit den lockigen Haaren und den veilchenblauen Augen, und die sondierenden Zauberer gerieten in Verwirrung, verloren zu seiner höchsten Befriedigung sichtlich die Contenance. Ja, antwortete er ihnen in Gedanken, ja, ihr irrt euch nicht. Es gibt nur sie, sie an meiner Seite, hier und jetzt, und nur das zählt. Hier und jetzt. Und was sie früher war, wo sie früher war und mit wem, hat keine, nicht die mindeste Bedeutung. Jetzt ist sie mit mir zusammen, hier, unter euch. Mit mir, mit keinem anderen. Genau so denke ich, der ich immerzu an sie denke, unablässig an sie denke, ihr Parfüm rieche und die Wärme ihres Körpers spüre. Und ihr sollt vor Neid platzen.
Die Zauberin drückte ihm fest die Hand, schmiegte sich leicht an seine Seite. »Danke«, murmelte sie und dirigierte ihn wieder zu den Tischen hin. »Aber ohne übertriebenes Zurschaustellen, bitte.«
»Haltet ihr Zauberer Aufrichtigkeit immer für zur Schau gestellt? Liegt das daran, dass ihr nicht an Aufrichtigkeit glaubt, selbst dann nicht, wenn ihr sie in fremden Gedanken lest?«
»Ja. Daran.«
»Und dennoch dankst du mir?«
»Weil ich dir glaube.« Sie drückte seine Hand noch stärker, griff nach einem Tellerchen. »Leg mir ein wenig Lachs auf, Hexer. Und Krabben.«
»Das sind Krabben aus Poviss. Sie sind sicherlich vor einem Monat gefangen worden, und es herrscht Hitze. Fürchtest du nicht ...«
»Diese Krabben«, unterbrach sie ihn, »sind noch heute Morgen auf dem Meeresgrund umhergekrochen. Teleportation ist eine wunderbare Erfindung.«
»Stimmt. Das müsste man allgemein verbreiten, findest du nicht?«
»Wir arbeiten daran. Leg auf, leg auf, ich habe Hunger.«
»Ich liebe dich, Yen.«
»Ich habe doch gebeten, ohne Zurschaustellen ...« Sie stockte, warf den Kopf zurück, strich sich die schwarzen Locken von der Wange, riss die veilchenblauen Augen auf. »Geralt! Du hast dich mir zum ersten Mal erklärt!«
»Unmöglich. Du machst dich über mich lustig!«
»Nein, mache ich nicht. Früher hast du es nur gedacht, heute hast du es gesagt.«
»Ist das so ein Unterschied?«
»Ein gewaltiger.«
»Yen ...«
»Red nicht mit vollem Mund. Ich liebe dich auch. Habe ich dir das nicht gesagt? Götter, du erstickst! Heb die Hände hoch, ich klopfe dir auf den Rücken. Atmen, tief atmen.«
»Yen ...«
»Atme, atme, gleich ist es vorbei.«
»Yen!«
»Ja. Aufrichtigkeit gegen Aufrichtigkeit.«
»Fühlst du dich wohl?«
»Ich habe gewartet.« Sie träufelte Zitrone auf den Lachs. »Ich konnte ja nicht gut auf Erklärungen reagieren, die du nur in Gedanken machtest. Ich habe auf die Worte gewartet, nun konnte ich antworten, ich habe geantwortet. Ich fühle mich blendend.«
»Was ist geschehen?«
»Das sage ich dir später. Iss. Dieser Lachs ist vorzüglich, ich schwör’s bei der Kraft, wirklich vorzüglich.«
»Darf ich dich küssen? Jetzt, hier, vor allen Leuten?«
»Nein.«
»Yennefer!« Eine vorbeikommende dunkelhaarige Zauberin löste sich vom Arm des sie begleitenden Mannes, kam näher. »Du bist also doch gekommen? Oh, das ist wundervoll! Ich habe dich eine Ewigkeit nicht gesehen!«
»Sabrina!« Yennefer freute sich so aufrichtig, dass jeder mit Ausnahme Geralts sich hätte täuschen lassen können. »Liebe! Wie ich mich freue!«
Die Zauberinnen umarmten sich vorsichtig und küssten einander die Luft neben den Ohren und den Ohrringen von Onyx und Brillanten. Die Ohrringe beider Zauberinnen, die an Miniatur-Weintrauben erinnerten, waren identisch – augenblicks lag wütende Feindschaft in der Luft.
»Geralt, erlaube, das ist meine Schulfreundin, Sabrina Glevissig von Ard Carraigh.«
Der Hexer verneigte sich, küsste die ihm hoch hingehaltene Hand. Er hatte schon erkannt, dass alle Zauberinnen bei der Begrüßung einen Handkuss erwarteten, eine Geste, die sie mindestens mit Fürstinnen gleichsetzte. Sabrina Glevissig hob den Kopf, ihre Ohrringe erzitterten und klingelten, leise, aber demonstrativ und dreist.
»Ich wollte dich schon immer kennenlernen, Geralt«, sagte sie lächelnd. Wie alle Zauberinnen benutzte sie kein »Herr«, »Euer Gnaden« und dergleichen beim Adel obligatorische Formen. »Ich freue mich, freue mich riesig. Endlich hast du aufgehört, ihn vor uns zu verstecken, Yenna. Offen gesagt, ich wundere mich, dass du so lange gezögert hast. Da gibt es absolut nichts, dessen man sich schämen müsste.«
»Das glaube ich auch«, erwiderte Yennefer leichthin, kniff ein wenig die Augen zusammen und warf demonstrativ die Haare zurück, so dass ihr eigener Ohrring zu sehen war. »Eine schöne Bluse, Sabrina. Geradezu hinreißend. Nicht wahr, Geralt?«
Der Hexer nickte, schluckte. Die Bluse von Sabrina Glevissig, die aus schwarzem Chiffon geschneidert war, ließ absolut alles sehen, was es zu sehen gab, und da gab es so einiges zu sehen. Der karminrote Rock, von einem silbernen Gürtel mit einer Schnalle in Form einer Rose gehalten, war entsprechend der neuesten Mode an der Seite geschlitzt. Die Mode verlangte allerdings, Röcke mit Schlitzen bis in halbe Höhe des Oberschenkels zu tragen, doch bei Sabrina war der Rock bis zur Mitte der Hüfte geschlitzt. Einer sehr hübschen Hüfte.
»Was gibt es Neues in Kaedwen?«, erkundigte sich Yennefer und tat so, als sehe sie nicht, wohin Geralt blickte. »Dein König Henselt vergeudet immer noch Kräfte und Mittel, um die Eichhörnchen in den Wäldern verfolgen zu lassen? Er denkt immer noch an eine Strafexpedition gegen die Elfen von Dol Blathanna?«
»Lassen wir die Politik ruhen.« Sabrina lächelte. Die ein wenig zu lange Nase und die Raubtieraugen ließen sie wie das klassische Bild einer Hexe aussehen. »Morgen bei der Beratung werden wir politisieren, dass es uns zu den Ohren herauskommt. Und werden uns reichlich verschiedene ... Moralpredigten anhören. Von der Notwendigkeit friedlicher Koexistenz ... Von der Freundschaft ... Von der unerlässlichen solidarischen Haltung gegenüber den Plänen und Absichten unserer Könige ... Was werden wir noch zu hören bekommen, Yennefer? Was halten das Kapitel und Vilgefortz morgen noch für uns in petto?«
»Lassen wir die Politik ruhen.«
Sabrina Glevissig lächelte silbern und ließ abermals leise die Ohrringe klimpern.
»Richtig. Warten wir ab bis morgen. Morgen ... Morgen wird sich alles klären. Ach, diese Politik, diese endlosen Besprechungen ... Wie schlecht die sich auf den Teint auswirken. Zum Glück habe ich eine perfekte Creme, glaub mir, meine Liebe, die Fältchen verschwinden im Nu ... Soll ich dir die Rezeptur geben?«
»Danke, meine Liebe, aber die brauche ich nicht. Wirklich nicht.«
»Ach, ich weiß. In der Schule habe ich dich immer um deinen Teint beneidet. Götter, wie lange ist das her?«
Yennefer tat so, als verbeuge sie sich zu irgendeinem der Vorübergehenden hin. Sabrina hingegen lächelte den Hexer an und reckte ausgiebig hervor, was der schwarze Chiffon nicht verbarg. Geralt schluckte abermals und versuchte, nicht allzu dreist ihre rosigen Brustwarzen zu betrachten, die durch den durchsichtigen Stoff hindurch nur zu gut zu sehen waren. Er blickte vorsichtig zu Yennefer hin. Die Zauberin lächelte, doch er kannte sie zu gut. Sie war wütend.
»Ach, entschuldige«, sagte sie plötzlich. »Ich sehe dort Philippa, mit der muss ich unbedingt reden. Komm, Geralt. Tschüs, Sabrina.«
»Tschüs, Yenna.« Sabrina Glevissig schaute dem Hexer in die Augen. »Ich gratuliere dir nochmals zu deinem ... Geschmack.«
»Danke.« Yennefers Stimme war verdächtig kalt. »Danke, meine Liebe.«
Philippa Eilhart war in Begleitung Dijkstras da. Geralt, der früher einmal flüchtig Kontakt zu dem redanischen Spion gehabt hatte, hätte sich eigentlich freuen müssen – endlich traf er auf einen Bekannten, der wie er nicht zur Bruderschaft gehörte. Doch er freute sich nicht.
»Wie schön, dich zu sehen, Yenna.« Philippa küsste die Luft neben Yennefers Ohrring. »Grüß dich, Geralt. Ihr kennt beide den Grafen Dijkstra, nicht wahr?«
»Wer kennt ihn nicht.« Yennefer neigte den Kopf und reichte Dijkstra die Hand, die der Spion ehrerbietig küsste. »Ich bin froh, Euch wiederzusehen, Graf.«
»Die Freude ist ganz meinerseits«, versicherte der Chef der Geheimdienste König Wisimirs, »dich wiederzusehen, Yennefer. Zumal in so lieber Gesellschaft. Herr Geralt, meine tief empfundene Wertschätzung ...«
Geralt verkniff sich die Versicherung, seine Wertschätzung sei noch tiefer empfunden, drückte die ihm dargebotene Hand – oder versuchte es vielmehr, denn ihre Ausmaße überstiegen das normale Maß und machten einen Händedruck praktisch unmöglich. Der riesenhafte Spion trug ein hellbeiges Doublett, das ziemlich leger aufgeknöpft war. Man sah, dass er sich darin ungezwungen fühlte.
»Ich habe bemerkt«, sagte Philippa, »dass ihr euch mit Sabrina unterhalten habt?«
»Haben wir«, fauchte Yennefer. »Hast du gesehen, was sie anhat? Man darf weder Geschmack noch Schamgefühl haben, um ... Aber lassen wir das. Wenn sie wenigstens was vorzuzeigen hätte! Die widerliche Äffin!«
»Sie hat versucht, euch auszuhorchen? Alle wissen, dass sie für Henselt von Kaedwen spioniert.«
»Was du nicht sagst!« Yennefer tat verwundert, was zu Recht als gelungener Scherz aufgefasst wurde.
»Und Ihr, Herr Graf, amüsiert Euch gut auf unserer Feierlichkeit?«, fragte Yennefer, als Philippa und Dijkstra zu lachen aufgehört hatten.
»Ungewöhnlich gut.« König Wisimirs Spion verbeugte sich galant.
Philippa lächelte. »Wenn wir bedenken, dass der Graf dienstlich hier ist, dann ist diese Feststellung für uns ein unerhörtes Kompliment. Und wie jedes Kompliment solcher Art wenig aufrichtig. Eben noch hat er mir gestanden, dass er ein nettes, heimeliges Halbdunkel vorziehen würde, den Geruch von Fackeln und von am Spieß leicht angebranntem Fleisch. Er vermisst den traditionellen Tisch, auf dem Soße und Bier verschüttet worden sind, auf den man im Rhythmus obszöner Trinklieder den Humpen aufstoßen und unter den man gegen Morgen elegant rutschen kann, um inmitten von an Knochen nagenden Windhunden einzuschlafen. Für meine Argumente aber, die die Überlegenheit unserer Art zu feiern aufzeigten, ist er, stellt euch das vor, taub geblieben.«
»Wirklich?« Der Hexer betrachtete den Spion freundlicher. »Und was waren das für Argumente, wenn man fragen darf?«
Diesmal war es seine Frage, die offensichtlich als gelungener Scherz aufgefasst wurde, denn beide Zauberinnen begannen gleichzeitig zu lachen.
»Ach, Männer«, sagte Philippa. »Nichts versteht ihr. Kann man denn in Halbdunkel und Qualm, wenn man am Tisch sitzt, mit seinem Kleid und seiner Figur imponieren?«
Geralt, der keine Worte fand, verbeugte sich nur. Yennefer drückte ihm sanft den Unterarm.
»Ach«, sagte sie. »Dort sehe ich Triss Merigold. Ich muss unbedingt ein paar Worte mit ihr wechseln ... Entschuldigt, dass wir euch jetzt verlassen. Bis bald, Philippa. Bestimmt finden wir heute noch eine Gelegenheit zum Plaudern. Nicht wahr, Graf?«
»Zweifellos.« Dijkstra lächelte und verneigte sich tief. »Ich stehe zu Diensten, Yennefer. Auf den ersten Wink.«
Sie gingen zu Triss, die in mehreren Nuancen von Blau und Seladon schillerte. Bei ihrem Anblick unterbrach Triss das Gespräch mit zwei Zauberern, lächelte freudig, umarmte Yennefer, und es wiederholte sich das rituelle Küssen der Luft neben den Ohren. Geralt ergriff die ihm dargebotene Hand, beschloss aber, gegen das Zeremoniell zu verstoßen – er umarmte die Zauberin mit dem kastanienbraunen Haar und küsste sie auf die weiche, wie ein Pfirsich mit Flaum besetzte Wange. Triss errötete ein wenig.
Die Zauberer stellten sich vor. Einer war Drithelm von Pont Vanis, der andere sein Bruder Detmold. Beide standen bei König Esterad von Kovir in Diensten. Beide erwiesen sich als wortkarg, beide entfernten sich, sobald sich eine Gelegenheit bot.
»Ihr habt euch mit Philippa und Dijkstra aus Dreiberg unterhalten«, stellte Triss fest, während sie mit dem an ihrem Hals hängenden, in Silber und Brillanten gefassten Herzchen aus Lapislazuli spielte. »Ihr wisst natürlich, wer Dijkstra ist?«
»Ja«, sagte Yennefer. »Hat er mit dir gesprochen? Und versucht, dich auszuhorchen?«
»Hat er.« Die Zauberin lächelte vielsagend und kicherte. »Ziemlich vorsichtig. Aber Philippa hat ihn behindert, so gut sie nur konnte. Dabei hätte ich gedacht, die beiden stünden besser zueinander.«
»Sie stehen bestens zueinander«, warnte Yennefer sie ernst. »Sieh dich vor, Triss. Sag ihm kein Wort über ... Du weißt, über wen.«
»Ich weiß. Ich werde achtgeben. Aber à propos ...« Triss senkte die Stimme. »Was ist mit ihr? Werde ich sie sehen können?«
Yennefer lächelte. »Wenn du dich endlich dazu entschließt, Übungen in Aretusa abzuhalten, wirst du sie sehr oft sehen können.«
»Ach.« Triss riss die Augen auf. »Verstehe. Ist Ciri ...«
»Still, Triss. Lass uns später darüber sprechen. Morgen. Nach der Beratung.«
»Morgen?« Triss lächelte sonderbar. Yennefer runzelte die Brauen, doch ehe sie nachfragen konnte, kam im Saal leichte Unruhe auf.
»Sie sind da.« Triss räusperte sich. »Endlich.«
»Ja«, bestätigte Yennefer und wandte den Blick von den Augen ihrer Freundin. »Sie sind da. Geralt, endlich ist Gelegenheit, dass du die Mitglieder des Kapitels und des Höchsten Rates kennenlernst. Wenn es sich ergibt, stelle ich dich vor, aber es wird nicht schaden, wenn du vorher weißt, wer wer ist.«
Die versammelten Zauberer traten zurück, verbeugten sich ehrerbietig vor den Personen, die den Saal betraten. Zuerst kam ein nicht mehr junger, aber kräftiger Mann in ungewöhnlich bescheidener Wollkleidung. An seiner Seite schritt eine hochgewachsene Frau mit scharfen Zügen und dunklem, glatt gekämmtem Haar.
»Das ist Gerhart von Aelle, bekannt als Hen Gedymdeith, der ältste unter den lebenden Zauberern«, teilte Yennefer halblaut mit. »Die Frau, die neben ihm geht, ist Tissaia de Vries. Sie ist nur wenig jünger als Hen, geizt aber nicht mit Elixieren.«
Hinter den beiden kam eine attraktive Frau mit sehr langen Haaren von dunklem Goldblond, die mit einem spitzenbesetzten resedafarbenen Kleid raschelte.
»Francesca Findabair, genannt Enid an Gleanna, die Aster aus den Tälern. Mach keine Stielaugen, Hexer. Sie gilt allgemein als die schönste Frau der Welt.«
»Sie ist Mitglied des Kapitels?«, flüsterte er verwundert. »Sie sieht sehr jung aus. Auch magische Elixiere?«
»In ihrem Fall nicht. Francesca ist eine reinblütige Elfe. Beachte den Mann, der sie begleitet. Das ist Vilgefortz von Roggeveen. Der ist wirklich jung. Aber unwahrscheinlich talentiert.«
Die Bezeichnung »jung« umfasste, wie Geralt wusste, bei den Zauberern ein Alter bis zu einschließlich hundert Jahren. Vilgefortz sah aus wie fünfunddreißig. Er war hochgewachsen und gut gebaut, er trug ein kurzes Wams nach Ritterart, aber natürlich ohne Wappen. Er sah verteufelt gut aus. Das fiel ins Auge, obwohl an seiner Seite Francesca Findabair einherschwebte, die Elfe mit den riesigen grauen Augen und von geradezu atemberaubender Schönheit.
»Der etwas Kleinere, der neben Vilgefortz geht, ist Artaud Terranova«, erklärte Triss Merigold. »Alle fünf bilden das Kapitel ...«
»Und diese junge Frau mit dem seltsamen Gesicht, die hinter Vilgefortz geht?«
»Das ist seine Assistentin, Lydia van Bredevoort«, sagte Yennefer in kaltem Ton. »Eine unbedeutende Person, aber es ist sehr taktlos, ihr ins Gesicht zu starren. Wende deine Aufmerksamkeit lieber den dreien zu, die danach kommen, das sind Mitglieder des Rates. Fercart von Cidaris, Radcliffe von Oxenfurt und Carduin von Lan Exeter.«
»Das ist der ganze Rat? In voller Besetzung? Ich dachte, es sind mehr.«
»Das Kapitel umfasst fünf Personen, zum Rat gehören weitere fünf. Darunter auch Philippa Eilhart.«
»Die Rechnung geht immer noch nicht auf«, sagte er kopfschüttelnd.
Triss begann zu kichern. »Du hast es ihm nicht gesagt? Weißt du es wirklich nicht, Geralt?«
»Was denn?«
»Yennefer gehört ja auch zum Rat. Seit der Schlacht von Sodden. Du hast dich noch nicht vor ihm damit gebrüstet, meine Liebe?«
»Nein, meine Liebe.« Die Zauberin schaute ihrer Freundin gerade in die Augen. »Erstens prahle ich nicht gern. Zweitens war dazu keine Zeit. Ich hatte Geralt sehr lange nicht gesehen, wir haben eine Menge nachzuholen. Da ist eine lange Liste zusammengekommen. Wir werden sie der Reihe nach abarbeiten.«
»Natürlich«, sagte Triss unsicher. »Hmm ... Nach so langer Zeit ... Verstehe. Da gibt es allerhand zu besprechen.«
Yennefer lächelte zweideutig und bedachte den Hexer abermals mit einem schmachtenden Blick. »Die Gespräche stehen am Ende der Liste. Ganz am Ende, Triss.«
Die Zauberin mit dem kastanienbraunen Haar wurde sichtlich verlegen und ein wenig rot. »Verstehe«, wiederholte sie und nestelte verlegen an dem Herzchen aus Lapislazuli.
»Ich bin sehr froh, dass du verstehst. Geralt, hol uns Wein. Nein, nicht von diesem Pagen. Von dem anderen, der weiter weg ist.«
Er gehorchte, da er in ihrer Stimme einen Befehl spürte. Während er die Gläser von dem Tablett nahm, das der Page trug, beobachtete er die beiden Zauberinnen diskret. Yennefer sprach schnell und leise, Triss Merigold hörte mit gesenktem Kopf zu. Als er zurückkam, war Triss schon fort. Yennefer zeigte an dem mitgebrachten Wein keinerlei Interesse, also stellte er die beiden nutzlosen Pokale auf einen Tisch.
»Du hast doch wohl nicht übertrieben?«, fragte er kalt.
Yennefers Augen flammten veilchenblau auf. »Versuch nicht, eine Idiotin aus mir zu machen. Hast du gedacht, ich wüsste nicht von ihr und dir?«
»Wenn es das ist ...«
»Genau das«, schnitt sie ihm das Wort ab. »Zieh kein dummes Gesicht und verkneif dir die Kommentare. Und vor allem versuch nicht zu lügen. Ich kenne Triss länger als dich, wir haben einander gern, verstehen uns blendend und werden uns immer verstehen, ungeachtet gewisser kleiner ... Zwischenfälle. Aber jetzt kam es mir so vor, als bestünde daran ein wenig Zweifel. Also habe ich ihn zerstreut, und fertig. Lass uns nicht darauf zurückkommen.«
Das hatte er nicht vor.
Yennefer strich sich die Locken von der Wange zurück. »Ich werde dich jetzt einen Augenblick alleinlassen, ich muss mit Tissaia und Francesca reden. Iss noch etwas, denn dir geht es im Bauche um. Und pass auf. Ein paar Leute werden dich gewiss ansprechen. Lass dich nicht übern Tisch ziehen und verdirb mir nicht den Ruf.«
»Keine Sorge.«
»Geralt?«
»Ja.«
»Vor kurzem hast du den Wunsch geäußert, mich zu küssen, hier vor allen Leuten. Ist das immer noch aktuell?«
»Ist es.«
»Versuch, mir den Lippenstift nicht zu verschmieren.«
Er lugte aus dem Augenwinkel nach den Versammelten. Sie beobachteten den Kuss, aber unaufdringlich. Philippa Eilhart, die unweit bei einer Gruppe junger Zauberer stand, zwinkerte ihm zu und tat so, als klatsche sie Beifall.
Yennefer löste ihren Mund von seinem, seufzte tief. »Eine Kleinigkeit, aber man freut sich«, murmelte sie. »Also, ich gehe. Ich komme bald wieder. Und später, nach dem Bankett ... Hmmm ...«
»Ja?«
»Iss bitte nichts mit Knoblauch.«
Als sie gegangen war, ließ der Hexer das feine Benehmen feines Benehmen sein, lockerte das Doublett, trank beide Pokale aus und versuchte ernsthaft, sich dem Essen zu widmen. Es wurde nichts daraus.
»Geralt.«
»Herr Graf.«
»Red mich nicht mit dem Titel an.« Dijkstra verzog das Gesicht. »Ich bin überhaupt kein Graf. Wisimir hat mich geheißen, mich so vorzustellen, um die Höflinge und Magier nicht mit meiner pöbelhaften Abstammung zu reizen. Na, wie klappt es mit dem Imponieren mit Kleid und Figur? Und mit dem Vortäuschen, dass du dich gut unterhältst?«
»Ich brauche nichts vorzutäuschen. Ich bin nicht dienstlich hier.«
»Interessant.« Der Spion lächelte. »Aber das bestätigt die allgemeine Ansicht, der zufolge du unnachahmlich und einzigartig bist. Denn alle anderen sind dienstlich hier.«
»Genau das hatte ich befürchtet.« Geralt hielt es für angebracht, ebenfalls zu lächeln. »Ich habe gespürt, dass ich hier einzigartig sein würde. Das heißt, fehl am Platze.«
Der Spion musterte die nahebei stehenden Schalen, nahm aus einer eine große grüne Schote einer Geralt unbekannten Pflanze und steckte sie in den Mund.
»Ich nutze die Gelegenheit«, sagte er, »dir für die Gebrüder Michelet zu danken. Eine Menge Leute in Redanien haben erleichtert aufgeatmet, als du sie alle vier im Hafen von Oxenfurt abgemurkst hast. Ich habe mich scheckig gelacht, als der Arzt von der Universität, der zu der Untersuchung herangezogen wurde, nach der Begutachtung der Wunden behauptete, jemand habe eine gerade auf den Stiel aufgesetzte Sense benutzt.«
Geralt enthielt sich eines Kommentars.
Dijkstra steckte sich die nächste Schote in den Mund. »Schade«, fuhr er kauend fort, »dass du dich, nachdem du sie erledigt hattest, nicht beim Bürgermeister gemeldet hast. Es war Kopfgeld auf sie ausgesetzt, tot oder lebendig. Kein geringes.«
»Zu viel Scherereien mit der Steuererklärung.« Der Hexer entschloss sich ebenfalls zu einer grünen Schote, doch sie schmeckte wie eingeseifter Sellerie. »Außerdem musste ich damals eilig abreisen, weil ... Aber ich langweile dich sicherlich, denn du weißt ja sowieso alles.«
»Schön wär’s.« Der Spion lächelte. »Ich weiß nicht alles. Woher denn auch?«
»Aus dem Bericht von Philippa Eilhart, um beim Nächstliegenden zu bleiben.«
»Berichte, Erzählungen, Gerüchte. Ich muss sie mir anhören, das ist mein Beruf. Aber mein Beruf zwingt mich gleichzeitig, sie sehr gründlich auszusieben. Unlängst, stell dir vor, sind mir Gerüchte zu Ohren gekommen, jemand habe den berühmten Professor und seine beiden Kumpane erledigt. Das habe sich bei einem Gasthof in Anchor zugetragen. Der das getan habe, sei auch zu sehr in Eile gewesen, um sich die Belohnung abzuholen.«
Geralt zuckte mit den Schultern. »Gerüchte. Siebe sie gründlich aus, und du wirst sehen, was übrig bleibt.«
»Das brauche ich nicht. Ich weiß, was übrig bleibt. Meistens ist es ein Versuch gezielter Desinformation. Ach, wenn wir schon bei Desinformation sind: Wie geht es der kleinen Cirilla, dem armen, kränklichen Mädchen, das so anfällig für Diphterie ist? Sie ist hoffentlich gesund?«
»Lass sein, Dijkstra«, erwiderte der Hexer kalt und schaute dem Spion direkt in die Augen. »Ich weiß, dass du dienstlich hier bist, aber übertreib den Eifer nicht.«
Der Spion lachte laut auf. Zwei in der Nähe vorübergehende Zauberer schauten sie verwundert an. Und neugierig.
»König Wisimir«, sagte Dijkstra, als er zu lachen aufgehört hatte, »bezahlt mir eine Extraprämie für jedes entschlüsselte Geheimnis. Eifer sichert mir ein anständiges Leben. Du wirst lachen, aber ich habe Frau und Kinder.«
»Ich finde daran nichts zum Lachen. Also arbeite für Frau und Kinder, aber nicht auf meine Kosten, wenn ich bitten darf. In diesem Saal, scheint mir, mangelt es nicht an Geheimnissen und Rätseln.«
»Ganz im Gegenteil. Ganz Aretusa ist ein einziges Rätsel. Du hast das sicherlich bemerkt? Etwas liegt hier in der Luft, Geralt. Um mich klar auszudrücken, ich rede nicht von Kerzenrauch.«
»Ich verstehe nicht.«
»Das glaube ich. Denn ich verstehe es selbst nicht. Aber ich möchte es sehr gern verstehen. Du etwa nicht? Ach, entschuldige. Du weißt ja ohnehin sicherlich alles. Aus dem Bericht der schönen Yennefer von Vengerberg, um beim Nächstliegenden zu bleiben. Wenn ich nur daran denke, dass es eine Zeit gab, da auch ich gelegentlich dies und das von der schönen Yennefer erfahren habe. Ach, wo ist der Schnee vom vergangenen Jahr?«
»Ich weiß wirklich nicht, wovon du redest, Dijkstra. Könntest du dich etwas genauer ausdrücken? Versuch es. Vorausgesetzt, es ist nichts Dienstliches. Entschuldige, aber ich habe nicht vor, für deine Extraprämie zu arbeiten.«
»Du glaubst, ich wolle mich dir unsittlich nähern?« Der Spion verzog das Gesicht. »Dir eine Information aus der Nase ziehen? Du kränkst mich, Geralt. Ich frage mich einfach, ob dir in diesem Saal dieselben Regelmäßigkeiten auffallen, die mir ins Auge springen.«
»Und was wäre das?«
»Wundert dich nicht die vollständige Abwesenheit gekrönter Häupter, die man auf dieser Zusammenkunft mühelos beobachten kann?«
»Überhaupt nicht.« Geralt war es endlich gelungen, eine marinierte Olive aufzuspießen. »Die Könige ziehen sicherlich traditionelle Gastmähler vor, an einem Tisch, unter den man gegen Morgen elegant rutschen kann. Außerdem ...«
»Was außerdem?« Dijkstra steckte sich vier Oliven in den Mund, die er ungeniert mit den Fingern aus der Schale genommen hatte.
»Außerdem« – der Hexer blickte auf die im Saal umherschlendernde Menge – »wollten sich die Könige nicht die Mühe machen. Sie haben vertretungsweise eine Armee Spione hergeschickt. Die in der Bruderschaft und solche von außerhalb. Sicherlich, um auszuspionieren, was hier in der Luft liegt.«
Dijkstra spuckte die Olivenkerne auf den Tisch, nahm eine lange Gabel von der silbernen Halterung und begann damit in den Tiefen einer kristallenen Salatschüssel zu stochern.
»Und Vilgefortz«, sagte er, ohne mit dem Stochern aufzuhören, »hat dafür gesorgt, dass hier kein Spion fehlt. Er hat alle königlichen Spione auf einem Haufen. Und wozu braucht Vilgefortz alle königlichen Spione auf einem Haufen, Hexer?«
»Ich habe keine Ahnung. Und es kümmert mich auch wenig. Wie gesagt, ich bin privat hier. Ich gehöre sozusagen nicht zum Haufen.«
König Wisimirs Spion angelte einen kleinen Kraken aus der Salatschüssel und betrachtete ihn angewidert. »Die essen das.« Er schüttelte mit gespieltem Mitleid den Kopf, worauf er sich wieder Geralt zuwandte. »Hör mir aufmerksam zu, Hexer«, sagte er leise. »Deine Überzeugung, du seiest privat hier, ist deine Gewissheit, dass nichts dich etwas angeht und nichts dich angehen kann ... Das schockiert mich und reizt mich, etwas zu riskieren. Hast du dafür eine Ader?«
»Deutlicher bitte.«
»Ich schlage dir eine Wette vor.« Dijkstra hob die Gabel mit dem darauf aufgespießten Kopffüßer. »Ich behaupte, dass dich im Laufe der nächsten Stunde Vilgefortz um eine längere Unterredung bittet. Ich behaupte, dass er dir während dieser Unterredung beweisen wird, dass du keine Privatperson bist und dass du zu seinem Haufen gehörst. Wenn ich mich irre, werde ich das vor deinen Augen aufessen, mit Saugnäpfen und allem Drum und Dran. Nimmst du die Wette an?«
»Was muss ich essen, wenn ich verliere?«
»Nichts.« Dijkstra blickte sich rasch um. »Wenn du verlierst, berichtest du mir den Inhalt deines Gesprächs mit Vilgefortz.«
Der Hexer schwieg für einen Moment und schaute den Spion ruhig an. »Ich verabschiede mich, Graf«, sagte er schließlich. »Ich danke für die Plauderei. Sie war lehrreich.«
Dijkstra war leicht entrüstet. »Also das ist ...«
»Ist es«, unterbrach ihn Geralt. »Ich verabschiede mich.«
Der Spion zuckte mit den Schultern, warf den Kraken mitsamt der Gabel in die Salatschüssel, wandte sich ab und ging. Geralt schaute ihm nicht nach. Er bewegte sich langsam zu einem anderen Tisch, um an die riesigen weiß-rosa Garnelen heranzukommen, die sich auf einer silbernen Schale inmitten von Salatblättern und Zitronenvierteln türmten. Er hatte Appetit darauf, doch da er noch immer neugierige Blicke auf sich spürte, wollte er die Schalentiere distinguiert essen, die Form wahren. Er näherte sich betont langsam, zurückhaltend, und nahm würdevoll ein paar Happen aus anderen Schüsseln.
Am Nachbartisch stand Sabrina Glevissig, ins Gespräch mit einer ihm unbekannten Zauberin mit feuerrotem Haar vertieft. Die Rothaarige trug einen weißen Rock und eine Bluse aus weißem Georgette. Die Bluse war wie die von Sabrina absolut durchsichtig, verfügte aber über ein paar strategisch verteilte Applikationen und Stickereien. Die Applikationen hatten, wie Geralt feststellte, eine interessante Eigenschaft: sie verdeckten und enthüllten abwechselnd.
Die Zauberinnen unterhielten sich und delektierten sich dabei an Langustenscheiben in Mayonnaise. Sie sprachen leise und in der Älteren Rede. Obwohl sie nicht zu ihm herschauten, redeten sie offensichtlich über ihn. Er strengte indiskret sein empfindliches Hexergehör an und tat dabei so, als interessierten ihn ausschließlich die Garnelen.
»... mit Yennefer?«, vergewisserte sich die Rothaarige und spielte mit ihrer Perlenkette, die so um den Hals gelegt war, dass sie wie ein Halsband aussah. »Meinst du das im Ernst, Sabrina?«
»Absolut«, erwiderte Sabrina Glevissig. »Du wirst es nicht glauben, das geht schon ein paar Jahre so. Dass er es mit diesem Scheusal aushält, wundert mich wirklich.«
»Was gibt es da zu wundern? Sie hat ihn mit einem Zauber belegt, hält ihn im Bann. Als ob ich das nicht selber oft genug getan hätte.«
»Das ist doch ein Hexer. Die lassen sich nicht verzaubern. Jedenfalls nicht so lange.«
»Dann ist es Liebe«, seufzte die Rothaarige. »Und Liebe ist blind.«
Sabrina verzog das Gesicht. »Er ist blind. Ob du es glaubst oder nicht, sie hat es gewagt, mich ihm als Schulfreundin vorzustellen! Stompe putha, sie ist so viel älter als ich, dass ... Aber was soll’s. Ich sage dir, sie ist wegen dieses Hexers eifersüchtig wie der Teufel. Die kleine Merigold hat ihn nur angelächelt, und da hat sie sie heruntergeputzt, was das Zeug hielt, und weggejagt. Und momentan ... Schau nur. Sie steht dort, unterhält sich mit Francesca, lässt aber kein Auge von dem Hexer.«
»Sie hat Angst«, kicherte die Rothaarige, »dass wir ihn ihr ausspannen, und sei es nur für heute Nacht. Was meinst du, Sabrina? Versuchen wir’s? Der Bursche ist attraktiv, ganz was anderes als unsere neunmalklugen Waschlappen mit ihren Komplexen und Ansprüchen ...«
»Sprich leiser, Marti«, zischte Sabrina. »Blick nicht zu ihm hin und schon gar nicht so gierig. Yennefer beobachtet uns. Und bewahre Haltung. Du willst ihn verführen? Das ist schlechter Stil.«
»Hm, du hast recht«, gab Marti nach kurzem Überlegen zu. »Aber wenn er plötzlich herkommen und selbst ein Angebot machen würde?«
»Dann« – Sabrina Glevissig warf dem Hexer einen Blick aus den schwarzen Raubtieraugen zu – »würde ich mich ohne zu überlegen mit ihm einlassen, und wenn’s auf blankem Stein wäre.«
»Und ich«, kicherte Marti, »sogar auf einem Igel.«
Der Hexer starrte das Tischtuch an und versteckte sein dummes Gesicht hinter einer Garnele und einen Salatblatt, unerhört froh, dass die Mutation der Blutgefäße es ihm unmöglich machte, zu erröten.
»Der Hexer Geralt?«
Er schluckte die Garnele hinunter, wandte sich um. Ein Zauberer mit bekannten Gesichtszügen deutete ein Lächeln an und berührte die umsäumten Revers seines veilchenblauen Doubletts. »Dorregaray von Vole. Wir kennen uns doch. Wir sind einander ...«
»Ich erinnere mich. Entschuldige, dass ich dich nicht gleich erkannt habe. Ich freue mich ...«
Der Zauberer lächelte etwas deutlicher, während er von einem Tablett, das ein Page vorbeitrug, zwei Kelche nahm.
»Ich beobachte dich seit einiger Zeit«, sagte er und reichte Geralt einen der Kelche. »Allen, denen dich Yennefer vorgestellt hat, hast du erklärt, dass du dich freust. Heuchelei oder Mangel an Kritikfähigkeit?«
»Höflichkeit.«
»Denen gegenüber?« Dorregaray wies mit einer weiten Geste auf die Versammelten. »Glaub mir, es lohnt die Mühe nicht. Das ist eine aufgeblasene, neidische und verlogene Bande, deine Höflichkeit werden sie nicht zu schätzen wissen, sondern vielmehr für Sarkasmus halten. Mit denen, Hexer, muss man auf ihre eigene Art umgehen, ohne Umschweife, arrogant, unhöflich, dann imponierst du ihnen wenigstens. Trinkst du ein Glas Wein mit mir?«
»Das gepanschte Zeug, das sie hier servieren?«, sagte Geralt mit freundlichem Lächeln. »Mit größtem Widerwillen. Na, aber wenn es dir schmeckt ... Ich werd’s mir hineinzwingen.«
Sabrina und Marti, die von ihrem Tisch her lange Ohren machten, platzten mit lautem Lachen heraus. Dorregaray bedachte beide mit einem Blick voller Verachtung, wandte sich um, stieß mit seinem Glas an den Kelch des Hexers und lächelte, diesmal aber offener.
»Punkt für dich«, sagte er ungezwungen. »Du lernst schnell. Zum Henker, wo hast du dir so eine Schlagfertigkeit zugelegt? Auf den Landstraßen, wo du immer noch auf den Spuren aussterbender Geschöpfe umherziehst? Auf deine Gesundheit. Du wirst lachen, aber du bist einer der wenigen in diesem Saal, dem ich gern so etwas wünsche.«
»Wirklich?« Geralt nippte an dem Wein, bewegte die Zunge, genoss den Geschmack. »Obwohl ich meinen Lebensunterhalt mit dem Abschlachten aussterbender Tiere verdiene?«
»Keine Wortklauberei bitte.« Der Zauberer klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter. »Das Bankett hat eben erst begonnen. Es werden sich bestimmt noch ein paar Leute mit dir anlegen, also geh sparsamer mit giftigen Erwiderungen um. Was aber deinen Beruf angeht ... Du, Geralt, hast wenigstens Anstand genug, dich nicht mit Trophäen zu behängen. Aber schau dich um. Na, nur Mut, gutes Betragen beiseite, sie haben es gern, wenn man sie anstarrt.«
Gehorsam heftete der Hexer den Blick auf die Brüste von Sabrina Glevissig.
»Schau.« Dorregaray fasste ihn am Ärmel und zeigte mit dem Finger auf eine vorübergehende, tüllumflatterte Zauberin. »Schuhe aus der Haut einer Hornagame. Hast du es bemerkt?«
Er nickte, nicht ganz ehrlich, denn er hatte ausschließlich das gesehen, was die Tüllbluse nicht verbarg.
»Da, bitte, eine Felskobra.« Unfehlbar erkannte der Zauberer das nächste durch den Saal paradierende Paar Schuhe. Die Mode, die die Röcke auf eine Handbreit über den Knöcheln verkürzt hatte, erleichterte ihm die Aufgabe. »Und dort ... Ein weißer Leguan. Ein Salamander. Eine Wiewerne. Ein Brillenkaiman. Ein Basilisk ... Allesamt vom Aussterben bedroht. Zum Henker, kann man keine Schuhe aus Rinds- oder Schweinsleder tragen?«
»Du redest wie üblich vom Leder, Dorregaray?«, vermutete Philippa Eilhart, die zu ihnen getreten war. »Vom Gerber- und Schusterhandwerk? Was für ein triviales und geschmackloses Thema.«
»Der eine findet dies geschmacklos, der andere jenes.« Der Zauberer verzog verächtlich das Gesicht. »Du hast schöne Applikationen am Kleid, Philippa. Wenn ich mich nicht irre, ist das Diamanthermelin? Sehr geschmackvoll. Du weißt sicherlich, dass diese Art vor zwanzig Jahren wegen ihrer schönen Behaarung vollständig ausgerottet worden ist?«
»Vor dreißig«, berichtigte Philippa, während sie nacheinander die übrigen Garnelen in den Mund steckte, die zu essen Geralt nicht rechtzeitig geschafft hatte. »Ich weiß, ich weiß, die Art würde zweifellos wieder zum Leben erwachen, wenn ich der Modistin sagen würde, sie soll Wergbüschel auf das Kleid nähen. Ich habe es erwogen. Aber Werg passte farblich nicht dazu.«
»Gehen wir zu dem Tisch dort drüben«, schlug der Hexer ungezwungen vor. »Dort habe ich eine große Schüssel mit schwarzem Kaviar gesehen. Und da der Schaufelstör auch beinahe gänzlich ausgestorben ist, müssen wir uns beeilen.«
»Kaviar in deiner Gesellschaft? Davon habe ich geträumt.« Philippa klapperte mit den Wimpern, schob ihm die Hand unter die Achsel und roch dabei anregend nach Zimt und Narde. »Lass uns unverzüglich losgehen. Leistest du uns weiter Gesellschaft, Dorregaray? Nein? Na, dann mach’s gut, viel Spaß noch.«
Der Zauberer fauchte und wandte sich ab. Sabrina Glevissig und ihre rothaarige Freundin begleiteten Philippa und Geralt mit Blicken, giftiger als die vom Aussterben bedrohte Felskobra.
»Dorregaray«, murmelte Philippa und schmiegte sich ungeniert an Geralts Seite, »spioniert für König Ethain von Cidaris. Sieh dich vor. Seine Echsen und Häute sind die Einleitung, nach der er beginnt, die Leute auszufragen. Und Sabrina Glevissig spitzt eifrig die Ohren, weil sie ...«
»... für Henselt von Kaedwen spioniert«, vollendete er den Satz. »Ich weiß, du hast es erwähnt. Und diese Rothaarige, ihre Freundin ...«
»Sie ist nicht rothaarig, sondern gefärbt. Hast du keine Augen im Kopf? Das ist Marti Sodergren.«
»Für wen spioniert sie?«
»Marti?« Philippa lächelte, ließ die Zähne zwischen den grellroten Lippen blitzen. »Für niemanden. Marti interessiert sich nicht für Politik.«
»Wie schockierend. Ich dachte, hier spionieren alle.«
Die Zauberin kniff die Augen zusammen. »Viele. Aber nicht alle. Nicht Marti Sodergren. Marti ist Heilerin. Und Nymphomanin. Ach, zum Kuckuck, sieh nur! Sie haben den ganzen Kaviar aufgefressen! Bis zum letzten Körnchen! Die ganze Schüssel! Und was machen wir jetzt?«
»Jetzt«, sagte Geralt mit unschuldigem Lächeln, »wirst du mir mitteilen, dass hier etwas in der Luft liegt. Du wirst sagen, dass ich die Neutralität aufgeben und eine Wahl treffen muss. Du wirst mir eine Wette vorschlagen. Davon, was ich bei dieser Wette gewinnen könnte, wage ich gar nicht zu träumen. Aber ich weiß, was ich tun muss, wenn ich verliere.«
Philippa Eilhart schwieg lange, ohne den Blick abzuwenden. »Ich hätte es mir denken können«, sagte sie leise. »Dijkstra hat nicht an sich halten können. Er hat dir ein Angebot gemacht. Dabei habe ich ihn gewarnt, dass du Spione verachtest.«
»Ich verachte nicht die Spione. Ich verachte das Spionieren. Und die Verachtung verachte ich. Schlag mir keine Wetten vor, Philippa. Freilich, ich spüre auch, dass hier etwas in der Luft liegt. Soll es meinetwegen liegen. Mich geht das nichts an und kümmert mich nicht.«
»Das hast du mir schon einmal gesagt. In Oxenfurt.«
»Schön, dass du es nicht vergessen hast. An die Umstände, nehme ich an, erinnerst du dich auch noch?«
»Ganz genau. Ich habe dir damals nicht verraten, wem dieser Rience dient, oder wie der hieß. Ich habe es ihm ermöglicht zu entkommen. Ach, damals warst du vielleicht wütend auf mich ...«
»Vorsichtig ausgedrückt.«
»Es ist an der Zeit, dass ich mich rehabilitiere. Morgen gebe ich dir diesen Rience. Nein, unterbrich mich nicht. Das ist keine Wette à la Dijkstra. Es ist ein Versprechen, und Versprechen pflege ich zu halten. Nein, keine Fragen bitte. Warte ab bis morgen. Jetzt aber wollen wir uns auf Kaviar und banalen Klatsch konzentrieren.«
»Es gibt keinen Kaviar.«
»Einen Augenblick.« Sie schaute sich rasch um, bewegte die Hand und murmelte einen Spruch. Das silberne Gefäß von der Form eines im Sprung gekrümmten Fisches füllte sich sogleich mit dem Rogen des vom Aussterben bedrohten Schaufelstörs.
Der Hexer lachte. »Kann man sich an einer Illusion sattessen?«
»Nein. Aber seinem snobistischen Geschmack kann man damit sehr schön frönen. Koste nur.«
»Hmm ... In der Tat ... Er kommt mir besser als echter vor ...«
»Und er macht nicht dick«, erklärte die Zauberin stolz, während sie Zitronensaft auf den nächsten Löffel Kaviar träufelte. »Darf ich dich um ein Glas Weißwein bitten?«
»Gern doch. Philippa?«
»Ja?«
»Der gute Ton verbietet es doch anscheinend, hier Zaubersprüche zu wirken. Wäre es dann nicht ungefährlicher gewesen, statt einer Illusion von Kaviar nur die Illusion des Geschmacks selbst zu erzeugen? Nur den Sinneseindruck? Du hättest doch sicherlich ...«
»Freilich hätte ich das gekonnt.« Philippa Eilhart schaute ihn durch das Kristall des Weinglases hindurch an. »So ein Spruch ist einfacher konstruiert als ein Dreschflegel. Aber wenn wir nur den Geschmackseindruck hätten, würden wir die Annehmlichkeit einbüßen, die sich aus der Tätigkeit ergibt. Der Vorgang, die ihn begleitenden rituellen Bewegungen, Gesten ... Das diesen Prozess begleitende Gespräch, der Blickkontakt ... Ich werde dich mit einem witzigen Vergleich erfreuen, soll ich?«
»Ich höre und freue mich schon im Voraus.«
»Den Eindruck eines Orgasmus könnte ich auch herbeizaubern.«
Ehe der Hexer die Sprache wiedergefunden hatte, trat eine verhältnismäßig kleine, schmächtige Zauberin mit langen glatten, strohfarbenen Haaren zu ihnen. Er erkannte sie auf Anhieb – es war die mit den Pantöffelchen aus dem Leder der Hornagame und der Bluse aus grünem Tüll, der nicht einmal solch ein Detail wie ein kleines Muttermal unter der linken Brust verbarg.
»Entschuldigt«, sagte sie, »aber ich muss euren kleinen Flirt unterbrechen. Philippa, Radcliffe und Detmold bitten dich um ein kurzes Gespräch. Dringend.«
»Na ja, wenn das so ist, gehe ich. Tschüs, Geralt. Wir flirten später!«
»Aha!« Die Blondine blickte ihn taxierend an. »Geralt. Der Hexer, an dem Yennefer einen Narren gefressen hat? Ich habe dich beobachtet und mir den Kopf zerbrochen, wer du sein könntest. Dabei habe ich mich fürchterlich gequält!«
»Ich kenne diese Art Qual«, erwiderte er mit einem höflichen Lächeln. »Ich leide momentan gerade daran.«
»Entschuldige die Dummheit. Ich bin Keira Metz. Oh, Kaviar!«
»Vorsicht, das ist eine Illusion.«
»Zum Teufel, du hast recht!« Die Zauberin ließ den Löffel los, als sei es der Schwanz eines schwarzen Skorpions. »Wer war derart dreist ... Du? Du kannst eine Illusion vierten Grades erzeugen? Du?«
»Ich«, log er, immer noch lächelnd. »Ich bin ein Meister der Magie; den Hexer täusche ich vor, um mein Inkognito zu wahren. Glaubst du, Yennefer würde sich für einen gewöhnlichen Hexer interessieren?«
Keira Metz schaute ihm direkt in die Augen, verzog den Mund. Am Halse trug sie ein Medaillon in der Form eines Ankh-Kreuzes, silbern mit darin eingesetzten Zirkonen.
»Etwas Wein?«, schlug er vor, um das peinliche Schweigen zu brechen. Er fürchtete, sein Scherz sei nicht gut angekommen.
»Nein, danke – Kollege Meister«, sagte Keira eisig. »Ich trinke nicht. Ich kann nicht. Ich habe vor, heute Nacht schwanger zu werden.«
»Von wem?«, erkundigte sich die hinzutretende rotgefärbte Freundin von Sabrina Glevissig, die die durchsichtige Bluse aus weißem Georgette trug, verziert mit sinnreich verteilten Applikationen. »Von wem?«, wiederholte sie und klimperte unschuldig mit den langen Wimpern.
Keira wandte sich um und musterte sie, von den Schuhen aus dem Leder des weißen Leguans bis zu dem kleinen Perlendiadem. »Und was geht dich das an?«
»Nichts. Berufliche Neugier. Willst du mich nicht deinem Begleiter vorstellen, dem berühmten Geralt von Riva?«
»Ungern. Aber ich weiß, dass du dich nicht abwimmeln lässt. Geralt, das ist Marti Sodergren, Heilerin. Ihre Spezialität sind Aphrodisiaka.«
»Müssen wir vom Geschäft reden? Oh, ihr habt mir etwas Kaviar übriggelassen? Wie freundlich.«
»Achtung«, sagten Keira und der Hexer wie aus einem Munde. »Das ist eine Illusion.«
»Tatsächlich!« Marti Sodergren beugte sich vor, zog das Näschen kraus, worauf sie das Weinglas in die Hand nahm, die Spur von karminrotem Lippenstift betrachtete. »Na klar, Philippa Eilhart. Wer sonst würde sich auf solch eine Dreistigkeit einlassen. Die widerwärtige Schlange. Wisst ihr, dass sie für Wisimir von Redanien spioniert?«
»Und Nymphomanin ist?«, riskierte der Hexer zu sagen.
Marti und Keira prusteten los.
»Hast du etwa darauf gezählt, als du mit ihr Süßholz geraspelt und zu flirten versucht hast?«, fragte die Heilerin. »Wenn dem so ist, sollst du wissen, dass dich jemand übel angeführt hat. Philippa macht sich seit einiger Zeit nichts mehr aus Männern.«
»Aber vielleicht bist du eine Frau?« Keira Metz spitzte die glänzenden Lippen. »Vielleicht täuschst du den Mann nur vor, Kollege Meister der Magie? Um das Inkognito zu wahren? Weißt du, Marti, er hat mir vor einem Augenblick gestanden, dass er gern etwas vortäuscht.«
»Er tut es gern und gut.« Marti lächelte boshaft. »Nicht wahr, Geralt? Unlängst habe ich gesehen, wie du vorgetäuscht hast, du hättst ein miserables Gehör und kenntest die Ältere Rede nicht.«
»Er hat eine Menge Fehler«, sagte Yennefer kalt, die hinzugetreten war und den Hexer besitzergreifend unterfasste. »Er hat praktisch nichts als Fehler. Ihr vergeudet eure Zeit, Mädels.«
»Sieht so aus«, stimmte Marti Sodergren zu, noch immer boshaft lächelnd. »Wir wünschen also viel Spaß. Komm, Keira, lass uns etwas ... Alkoholfreies trinken. Vielleicht entschließe auch ich mich heute Nacht zu etwas?«
»Uff«, ächzte er, als sie weg waren. »Das war höchste Zeit, Yen. Danke.«
»Du dankst? Das meinst du doch wohl nicht im Ernst. Es gibt in diesem Saal genau elf Frauen, die unter durchsichtigen Blusen ihre Titten sehen lassen. Ich lasse dich eine halbe Stunde allein, und dann erwische ich dich im Gespräch mit zweien davon ...«
Yennefer unterbrach sich, blickte auf das fischförmige Gefäß.
»... und beim Essen einer Illusion«, fügte sie hinzu. »Ach, Geralt, Geralt. Jetzt ist Gelegenheit, dich ein paar Personen vorzustellen, die kennenzulernen sich lohnt.«
»Ist eine dieser Personen Vilgefortz?«
Die Zauberin kniff die Augen zusammen. »Interessant, dass du gerade nach ihm fragst. Ja, es ist Vilgefortz, der dich kennenlernen und sich mit dir unterhalten möchte. Ich warne dich, das Gespräch kann banal und oberflächlich wirken, aber lass dich davon nicht täuschen. Vilgefortz ist ein erfahrener, unglaublich intelligenter Spieler. Ich weiß nicht, was er von dir will, aber sieh dich vor.«
»Ich werde mich vorsehen«, seufzte er. »Aber ich glaube nicht, dass dein erfahrener Spieler imstande sein wird, mich zu überraschen. Nicht nach dem, was ich hier durchgemacht habe. Auf mich haben sich Spione gestürzt, mich haben aussterbende Echsen und Hermeline angefallen. Ich bin mit nicht existierendem Kaviar gefüttert worden. Nymphomaninnen, die sich nichts aus Männern machen, haben meine Männlichkeit in Zweifel gezogen, mir mit Vergewaltigung auf einem Igel gedroht, mich mit Schwangerschaft, was sag ich, sogar mit einem Orgasmus geängstigt, und zwar einem ohne die zugehörigen rituellen Bewegungen. Brrr ...«
»Du hast getrunken?«
»Eine Art Weißwein von Cidaris. Aber wahrscheinlich war ein Aphrodisiakum drin ... Yen? Kehren wir nach dem Gespräch mit diesem Vilgefortz nach Loxia zurück?«
»Wir kehren nicht nach Loxia zurück.«
»Wie das?«
»Ich will die Nacht in Aretusa verbringen. Mit dir. Ein Aphrodisiakum, sagst du? Im Wein? Interessant ...«
»O jechen, je«, seufzte Yennefer, reckte sich und warf ein Bein über ein Bein des Hexers. »Ach je. So lange habe ich keine Liebe gemacht ... So schrecklich lange.«
Geralt vergrub die Finger in ihren Locken, sagte nichts. Erstens konnte die Feststellung eine Provokation sein, er fürchtete den im Köder versteckten Haken. Zweitens wollte er nicht mit Worten den Geschmack ihrer Lust wegwischen, den er noch immer auf den Lippen hatte.
»Sehr lange habe ich mich nicht mit einem Mann geliebt, der mir seine Liebe erklärt hat, und ich ihm meine«, murmelte sie nach einem Augenblick, als schon klar war, dass der Hexer den Köder nicht angenommen hatte. »Ich hatte vergessen, wie das sein kann. Jechen, je.«
Sie reckte sich noch stärker, breitete die Arme aus und erfasste mit beiden Händen die Ecken des Kopfkissens, und da nahmen ihre vom Mondlicht übergossenen Brüste eine Form an, die bei dem Hexer im unteren Ende des Rückens ein Kribbeln auslöste. Er umarmte sie, beide lagen sie reglos da, verloschen, kühlten sich ab.
Vor dem Fenster des Zimmerchens zirpten Grillen, man hörte auch entfernte, leise Stimmen und Gelächter, ein Zeichen, dass das Bankett trotz der weit vorgerückten Stunde andauerte.
»Geralt?«
»Ja, Yen?«
»Erzähl.«
»Von dem Gespräch mit Vilgefortz? Jetzt gleich? Ich erzähl’s dir morgen früh.«
»Jetzt gleich, bitte.«
Er schaute zu dem kleinen Schreibtisch in der Zimmerecke. Darauf lagen Bücher, Alben und andere Gegenstände, die die vorübergehend nach Loxia ausquartierte Adeptin nicht mitgenommen hatte. Fürsorglich gegen die Bücher gelehnt, saß dort auch eine rundliche Stoffpuppe in einem Faltenrock, der vom häufigen Drücken zerknittert war. Sie hat die Puppe nicht mitgenommen, dachte er, um sich in Loxia im gemeinsamen Schlafraum nicht dem Gespött der anderen Mädchen auszusetzen. Sie hat ihr Püppchen nicht mitgenommen. Und jetzt kann sie ohne es sicherlich nicht einschlafen.
Die Puppe fixierte ihn mit ihren Glasaugen. Er wandte den Blick ab.
Als Yennefer ihn dem Kapitel vorgestellt hatte, hatte er die Elite der Zauberer wachsam beobachtet. Hen Gedymdeith widmete ihm nur einen kurzen, müden Blick – man sah, dass das Bankett den Alten schon ausgiebig gelangweilt und erschöpft hatte. Artaud Terranova verbeugte sich mit einer zweideutigen Grimasse, während sein Blick zwischen Geralt und Yennefer hin und her huschte, wurde aber angesichts der anderen sogleich ernster. Die blauen Elfenaugen von Francesca Findabair waren undurchdringlich und hart wie Glas. Als er ihr vorgestellt wurde, lächelte die Aster aus den Tälern. Das Lächeln, wenngleich unheimlich schön, ließ den Hexer erschaudern. Tissaia de Vries, scheinbar unablässig mit dem Zurechtrücken von Manschetten und Schmuck beschäftigt, bedachte ihn mit einem weitaus weniger schönen, aber wesentlich aufrichtigeren Lächeln. Und es war Tissaia, die sofort ein Gespräch mit ihm begann, indem sie an eine seiner edlen Hexertaten erinnerte, derer er sich überhaupt nicht entsinnen konnte und von der er argwöhnte, sie habe sie sich aus den Fingern gesogen.
Und da schaltete sich Vilgefortz in die Unterhaltung ein. Vilgefortz von Roggeveen, ein Zauberer von imposanter Statur, mit edlen und schönen Gesichtszügen, einer offenen und respektvollen Stimme. Geralt wusste, dass man bei Leuten, die so aussehen, mit allem rechnen muss.
Während des kurzen Gesprächs spürten sie beunruhigte Blicke auf sich. Den Hexer betrachtete Yennefer. Vilgefortz schaute die junge Zauberin mit den freundlichen Augen an, die unablässig versuchte, die untere Gesichtshälfte hinter einem Fächer zu verbergen. Sie tauschten ein paar konventionelle Bemerkungen aus, worauf Vilgefortz vorschlug, das Gespräch im kleineren Kreis fortzusetzen. Geralt hatte den Eindruck, dass Tissaia de Vries die einzige Person war, die sich über diesen Vorschlag wunderte.
»Bist du eingeschlafen, Geralt?« Yennefers Murmeln riss ihn aus seinen Gedanken. »Du solltest mir von eurem Gespräch erzählen.«
Die Puppe auf dem Schreibtisch schaute ihn gläsern an. Er wandte den Blick ab.
»Sobald wir in den Säulengang hinausgegangen waren«, begann er nach einer Weile, »hat dieses Mädchen mit dem sonderbaren Gesicht ...«
»Lydia van Bredevoort. Vilgefortz’ Assistentin.«
»Ja, richtig, du hattest es erwähnt. Eine unbedeutende Person. Als wir also im Säulengang waren, ist diese unbedeutende Person stehen geblieben, hat ihn angeschaut und etwas gefragt. Telepathisch.«
»Das war keine Taktlosigkeit. Lydia kann ihre Stimme nicht gebrauchen.«
»Das dachte ich mir. Denn Vilgefortz antwortete ihr nicht telepathisch. Er antwortete ...«
»Ja, Lydia, das ist ein guter Einfall«, antwortete Vilgefortz. »Lass uns durch die Galerie des Ruhmes spazieren. Du wirst Gelegenheit haben, einen Blick auf die Geschichte der Magie zu werfen, Geralt von Riva. Ich zweifle nicht daran, dass du die Geschichte der Magie kennst, aber du wirst Gelegenheit haben, ihre visuelle Seite kennenzulernen. Wenn du ein Kunstkenner bist, dann erschrick nicht. Die meisten Bilder sind das Werk enthusiastischer Studentinnen aus Aretusa. Lydia, sei so gut und helle das hier herrschende Dunkel ein wenig auf.«
Lydia van Bredevoort fuhr mit der Hand durch die Luft, und sogleich wurde es in dem Korridor heller.
Das erste Bild stellte ein altes Segelschiff dar, das zwischen Riffen, die aus aufgewühltem Wasser ragten, vom Sturm umhergeworfen wurde. Am Bug des Schiffes stand ein Mann in weißem Gewand, um den Kopf eine leuchtende Aureole.
»Die erste Landung«, erriet der Hexer.
»Selbstverständlich«, bestätigte Vilgefortz. »Das Schiff der Vertriebenen. Jan Bekker unterwirft die Kraft seinem Willen. Er beruhigt die See und beweist so, dass Magie durchaus nicht böse und destruktiv zu sein braucht, sondern Leben zu retten vermag.«
»Dieses Ereignis hat sich wirklich zugetragen?«
»Ich glaube kaum.« Der Zauberer lächelte. »Wahrscheinlicher ist, dass Bekker während der ersten Reise und Landung zusammen mit den anderen über der Reling hing und die Fische fütterte. DieKraft zu beherrschen gelang ihm erst nach der Landung, die durch einen seltsamen Zufall glücklich verlief. Gehen wir weiter. Da siehst du wieder Jan Bekker, wie er das Wasser zwingt, aus dem Felsen zu sprudeln, wo die erste Siedlung errichtet wird. Und hier, bitte, vertreibt der von knienden Siedlern umringte Bekker die Wolken und verhindert einen Regenguss, um die Ernte zu retten.«
»Und das? Welches Ereignis stellt dieses Bild dar?«
»Die Erkennung der Auserwählten. Bekker und Giambattista unterziehen die Kinder der nächsten ankommenden Siedler einem magischen Test, um Quellen zu entdecken. Die ausgesonderten Kinder werden den Eltern fortgenommen und nach Mirthe gebracht, dem ersten Sitz der Magier. Du betrachtest gerade einen historischen Augenblick. Wie du siehst, sind alle Kinder verängstigt, nur diese kleine resolute Brünette streckt mit einem vertrauensvollen Lächeln Giambattista die Hände entgegen. Das ist die später berühmt gewordene Agnes von Glanville, die erste Frau, die Zauberin wurde. Das Weib da hinter ihr ist ihre Mutter. Irgendwie traurig.«
»Und diese Gruppenszene?«
»Die Union von Nowigrad. Bekker, Giambattista und Monck schließen die Übereinkunft mit den Herrschern, Priestern und Druiden ab. Etwas in der Art eines Nichtangriffspaktes und der Trennung von Staat und Magie. Schrecklicher Kitsch. Gehen wir weiter. Und hier sehen wir Geoffrey Monck, wie er den Pontar hinauffährt, der damals noch tevon y Pont ar Gwennelen hieß, der Fluss der Alabasterbrücken. Monck fuhr bis nach Loc Muinne, um die Elfen dort zu bewegen, eine Gruppe von Kindern aufzunehmen, die Quellen waren und durch Elfenmagier ausgebildet werden sollten. Es wird dich vielleicht interessieren, dass sich unter den Kindern ein Junge befand, der Gerhart von Aelle hieß. Du hast ihn vorhin kennengelernt. Jetzt nennt sich dieser Junge Hen Gedymdeith.«
»Hier« – der Hexer schaute den Zauberer an – »drängt sich Schlachtenmalerei geradezu auf. Es war ja nur ein paar Jahre nach der erfolgreichen Expedition Moncks, dass die Truppen des Marschalls Raupenneck von Dreiberg in Loc Muinne und Est Haemlet ein Gemetzel verübten und alle Elfen ohne Rücksicht auf Alter und Geschlecht umbrachten. Worauf der Krieg begann, der mit dem Massaker von Shaerrawedd endete.«
Abermals lächelte Vilgefortz. »Dank deinen imponierenden Geschichtskenntnissen weißt du natürlich, dass an jenen Kriegen kein einziger Zauberer von Rang teilgenommen hat. Daher hat das Thema keine einzige Adeptin inspiriert, einen entsprechenden Schinken zu malen. Gehen wir weiter.«
»Gehen wir. Hier, auf diesem Bild, was sind das für Ereignisse? Ach, ich weiß. Das ist Raffard der Weiße, wie er die verfeindeten Könige versöhnt und den Sechsjährigen Krieg beendet. Und hier haben wir Raffard, wie er die Krone ablehnt. Eine schöne, edle Geste.«
»Meinst du?« Vilgefortz hielt den Kopf schief. »Nun ja, jedenfalls hat diese Geste einen Präzedenzfall geschaffen. Raffard nahm jedoch die Stellung eines Ersten Ratgebers an und regierte de facto, denn der König war debil.«
»Die Galerie des Ruhmes ...«, murmelte der Hexer, während er ans nächste Bild herantrat. »Und was haben wir hier?«
»Den historischen Augenblick, als das erste Kapitel zusammengerufen und das Gesetz beschlossen wurde. Da sitzen von links: Herbert Stammelford, Aurora Henson, Ivo Richert, Agnes von Glanville, Geoffrey Monck und Radmir von Tor Carnedd. Hier wäre, wenn ich offen sein soll, als Ergänzung wiederum ein Schlachtengemälde angebracht. Denn wenig später wurden in einem brutalen Krieg diejenigen ausgerottet, die das Kapitel nicht anerkennen und sich dem Gesetz nicht unterwerfen wollten. Darunter Raffard der Weiße. Doch davon schweigen die historischen Abhandlungen, um der schönen Legende keinen Abbruch zu tun.«
»Und hier ... Hmmm ... Ja, das hat wohl eine Adeptin gemalt. Und zwar eine sehr junge ...«
»Zweifellos. Das ist überhaupt eine Allegorie. Ich würde es die Allegorie der triumphierenden Weiblichkeit nennen. Luft, Wasser, Erde und Feuer. Und vier berühmte Zauberinnen, Meisterinnen in der Beherrschung der Kräfte jener Elemente. Agnes von Glanville, Aurora Henson, Nina Fioravanti und Klara Larissa de Winter. Schau dir das nächste, besser gelungene Bild an. Hier sehen wir ebenfalls Klara Larissa, wie sie die Akademie für Mädchen eröffnet. In dem Gebäude, in dem wir uns gerade befinden. Und diese Porträts zeigen berühmte Absolventinnen von Aretusa. Da haben wir die lange Geschichte der triumphierenden Weiblichkeit und der fortschreitenden Feminisierung des Berufs: Yanna von Murivel, Nora Wagner, ihre Schwester Augusta, Jade Glevissig, Leticia Charbonneau, Ilona Laux-Antille, Carla Demetia Crest, Violenta Suarez, April Wenhaver ... Und die Einzige, die noch am Leben ist: Tissaia de Vries ...«
Sie gingen weiter. Lydia van Bredevoorts Kleid raschelte seidig, und in diesem Rascheln lag ein bedrohliches Geheimnis.
»Und das?« Geralt blieb stehen. »Was ist das für eine grässliche Szene?«
»Das Martyrium des Magiers Radmir, dem während des Aufstandes von Falka bei lebendigem Leibe die Haut abgezogen wurde. Im Hintergrund brennt die Stadt Mirthe, die Falka anzuzünden befohlen hatte.«
»Wofür wenig später Falka selbst brannte. Auf dem Scheiterhaufen.«
»Diese Tatsache ist weithin bekannt, die Kinder in Temerien und Redanien spielen noch heute am Vorabend von Saovine Falka-Brennen. Kehren wir um, damit du dir die andere Seite der Galerie ansehen kannst ... Ich sehe, dass du etwas fragen willst. Ich höre.«
»Mich wundert die Chronologie. Ich weiß natürlich, wie Verjüngungselixiere wirken, aber wie auf den Bildern lebende Personen gleichzeitig mit längst verstorbenen abgebildet sind ...«
»Mit anderen Worten, dich wundert, dass du auf dem Bankett Hen Gedymdeith und Tissaia de Vries begegnet bist, dass aber Bekker, Agnes von Glanville, Stammelford oder Nina Fioravanti nicht dabei waren?«
»Nein. Ich weiß, dass ihr nicht unsterblich seid ...«
»Was ist der Tod?«, unterbrach ihn Vilgefortz. »Was meinst du?«
»Das Ende.«
»Das Ende wovon?«
»Der Existenz. Mir scheint, wir haben zu philosophieren begonnen.«
»Die Natur kennt den Begriff der Philosophie nicht, Geralt von Riva. Als Philosophie bezeichnet man gemeinhin die armseligen und lächerlichen Versuche, die Natur zu verstehen, die die Menschen unternehmen. Als Philosophie gelten auch die Ergebnisse solcher Versuche. Das ist, als ob irgendeine Runkelrübe die Ursachen und Folgen ihrer Existenz erforschte und das Ergebnis der Überlegungen als den ewigen und geheimnisvollen Konflikt von Knolle und Blattwerk bezeichnete und den Regen für die Unerforschte Wirkende Kraft hielte. Wir Zauberer vergeuden keine Zeit mit der Enträtselung der Natur. Wir wissen, was sie ist, weil wir selbst Natur sind. Verstehst du mich?«
»Ich bemühe mich, aber sprich bitte langsamer. Vergiss nicht, du redest mit einer Runkelrübe.«
»Hast du dich jemals gefragt, was damals geschehen ist, als Bekker das Wasser zwang, aus dem Fels zu sprudeln? Es ist leicht gesagt: Bekker hat die Kraft bezwungen. Er hat das Element gezwungen, zu gehorchen. Er hat sich die Natur unterworfen, sich zu ihrem Herrscher aufgeschwungen ... Wie ist deine Beziehung zu Frauen?«
»Wie bitte?«
Lydia van Bredevoort wandte sich mit seidigem Rascheln ab, erstarrte in Erwartung. Geralt bemerkte, dass sie unter dem Arm ein verpacktes Bild trug. Er hatte keine Ahnung, wo es herkam, eben noch hatte Lydia nichts getragen. Das Amulett an seinem Hals ruckte sacht.
Vilgefortz lächelte. »Ich habe«, erinnerte er den Hexer, »nach deinen Ansichten in Bezug auf das Verhältnis zwischen Mann und Frau gefragt.«
»In Bezug auf welchen Aspekt dieses Verhältnisses?«
»Kann man deiner Meinung nach eine Frau zum Gehorsam zwingen? Ich rede natürlich von richtigen Frauen, nicht von Weibchen. Kann man eine richtige Frau beherrschen? Sich ihrer bemächtigen? Bewirken, dass sie sich deinem Willen unterwirft? Und wenn ja, auf welche Weise? Antworte.«
Die zerknitterte Puppe wandte den gläsernen Blick nicht von ihnen. Yennefer schaute weg.
»Hast du geantwortet?«
»Habe ich.«
Die Zauberin drückte die linke Hand zusammen, die auf seinem Ellenbogen lag, und die rechte, die seine auf ihrer Brust liegenden Finger berührte.
»Auf welche Weise?«
»Das weißt du doch.«
»Du hast es verstanden«, sagte nach einer Weile Vilgefortz. »Und hast es wohl schon immer gewusst. Und darum wirst du auch verstehen, dass dann, wenn der Begriff von Wille und Unterordnung verschwindet, von Befehl und Gehorsam, Herrschaft und Untertänigkeit, Einheit erreicht wird. Vollständigkeit, Verschmelzen zu einem Ganzen. Gegenseitige Durchdringung. Dort im Bankettsaal ist Jan Bekker zugegen, der das aus dem Felsen sprudelnde Wasser war. Zu sagen, Bekker sei gestorben, ist so, als behaupte man, das Wasser sei gestorben. Schau dieses Bild an.«
Er schaute es an.
»Es ist außerordentlich schön«, sagte er nach einem Moment. Und sofort spürte er, wie das Hexermedaillon leicht zuckte.
Vilgefortz lächelte. »Lydia dankt dir für die Anerkennung. Und ich beglückwünsche dich zu deinem Geschmack. Die Landschaft stellt die Begegnung Cregennans von Lod mit Lara Dorren aep Shiadhal dar, des legendären Liebespaares, die während einer Zeit der Verachtung getrennt und vernichtet wurden. Er war ein Zauberer, sie eine Elfe, eine aus der Elite der Aen Saevherne oder der Wissenden. Was der Beginn der Vereinigung hätte sein können, wurde zur Tragödie.«
»Ich kenne diese Erzählung. Ich habe sie immer für ein Märchen gehalten. Wie war es wirklich?«
Die Miene des Zauberers wurde ernst. »Das weiß niemand. Das heißt, fast niemand. Lydia, häng dein Bild auf, hier neben die anderen. Geralt, bewundere das nächste Werk von Lydias Hand. Das ist ein Porträt von Lara Dorren aep Shiadhal, angefertigt nach einer alten Miniatur.«
»Ich gratuliere.« Der Hexer verneigte sich vor Lydia van Bredevoort, doch seine Stimme blieb völlig unbewegt. »Das ist ein wahres Meisterwerk.«
Seine Stimme blieb völlig unbewegt, obwohl Lara Dorren aep Shiadhal ihn von dem Porträt her mit den Augen Ciris ansah.
»Was war danach?«
»Lydia blieb in der Galerie. Wir beide gingen auf die Terrasse. Und er hat sich auf meine Kosten amüsiert.«
»Hierher, Geralt, bitte. Tritt bitte nur auf die dunklen Platten.«
Unten rauschte das Meer, die Insel Thanedd stand inmitten der weißen Brandungsgischt. Die Wellen brachen sich an den Mauern von Loxia, das sich genau unter ihnen befand. Loxia erstrahlte in unzähligen Lichtern, ebenso wie Aretusa. Der über ihnen aufragende Steinblock von Garstang hingegen war schwarz und verlassen.
»Morgen« – der Zauberer folgte dem Blick des Hexers – »werden die Mitglieder des Kapitels und des Rates die traditionellen Gewänder anlegen, die dir von alten Stichen bekannten langen schwarzen Mäntel und die spitzen Hüte. Wir werden uns auch mit langen Stäben bewaffnen und so den Zauberern und Hexen ähnlich sehen, mit denen man Kinder schreckt. Auch das ist Tradition. In Begleitung von ein paar weiteren Delegierten begeben wir uns dort hinauf, nach Garstang. Dort, in einem besonders vorbereiteten Saal, werden wir Rat halten. Die übrigen werden in Aretusa auf unsere Rückkehr und unsere Entscheidung warten.«
»Die Beratungen in Garstang, im kleinen Kreis, sind auch Tradition?«
»Ganz und gar. Eine lange und von praktischen Gesichtspunkten diktierte. Es ist vorgekommen, dass die Beratungen der Zauberer stürmisch waren und es zu ziemlich aktivem Meinungsaustausch kam. Während eines solchen Austausches hat ein Kugelblitz Frisur und Kleid von Nina Fioravanti beschädigt. Nina hat ein Jahr Arbeit daran gesetzt, die Mauern von Garstang mit einer unglaublich starken Aura und antimagischen Blockade zu belegen. Seither hat in Garstang kein Zauberspruch mehr gewirkt, und die Diskussionen verlaufen ruhiger. Insbesondere, wenn nicht vergessen wird, den Diskussionsteilnehmern die Messer abzunehmen.«
»Verstehe. Und dieser einsame Turm oberhalb von Garstang, ganz auf dem Gipfel, was ist das? Ein wichtiges Bauwerk?«
»Das ist Tor Lara, der Möwenturm. Eine Ruine. Ob er wichtig ist? Wahrscheinlich ja.«
»Wahrscheinlich?«
Der Zauberer stützte sich auf die Brüstung. »Der Elfenüberlieferung zufolge soll Tor Lara durch einen Teleport mit dem geheimnisvollen, bis heute nicht entdeckten Tor Zireael verbunden sein, dem Schwalbenturm.«
»Soll sein? Es ist euch nicht gelungen, diesen Teleport ausfindig zu machen? Das glaube ich nicht.«
»Daran tust du recht. Wir haben das Portal entdeckt, doch wir mussten es blockieren. Es gab Proteste, alle wollten drauflosexperimentieren, jeder wollte als Erforscher von Tor Zireael berühmt werden, dem mythischen Sitz der Elfenmagier und -weisen. Das Portal ist jedoch irreparabel defekt und transportiert chaotisch. Es gab Opfer, also wurde es blockiert. Gehen wir, Geralt, es wird kalt. Vorsichtig. Tritt nur auf die dunklen Platten.«
»Warum nur auf die dunklen?«
»Diese Gebäude sind verfallen. Feuchtigkeit, Erosion, die starken Winde, das Salz in der Luft, das alles ist von schädlichem Einfluss auf die Mauern. Eine Reparatur wäre zu teuer, also benutzen wir eine Illusion. Das Prestige, du verstehst.«
»Nicht ganz.«
Der Zauberer machte eine Handbewegung, und die Terrasse verschwand. Sie standen über einem Abgrund, einer Leere, in die aus der Gischt Felszacken emporragten. Auf einem schmalen Streifen von dunklen Platten standen sie, der wie ein Trapez zwischen dem Korridor in Aretusa und dem die Terrasse stützenden Pfeiler gespannt war.
Geralt hielt mit Mühe das Gleichgewicht. Wäre er ein Mensch gewesen und kein Hexer, so hätte er es nicht halten können. Doch selbst er hatte sich überraschen lassen. Seine heftige Bewegung konnte dem Zauberer nicht entgangen sein, und auch im Gesicht musste es Veränderungen gegeben haben. Der Wind zerrte auf dem schmalen Steg an ihm, der Abgrund rief ihn mit bösartigem Wellenrauschen.
»Du fürchtest den Tod«, stellte Vilgefortz lächelnd fest. »Du fürchtest ihn ja doch.«
Das Lumpenpüppchen schaute sie aus den Glasperlenaugen an.
»Er hat dich angeführt«, murmelte Yennefer und schmiegte sich an den Hexer. »Es bestand keine Gefahr, gewiss hat er sowohl dich als auch sich selbst mit einem Levitationsfeld abgesichert. Er wäre kein Wagnis eingegangen ... Was war weiter?«
»Wir gingen in einen anderen Flügel von Aretusa. Er führte mich in ein großes Zimmer, wahrscheinlich war es das Arbeitszimmer einer der Dozentinnen, vielleicht sogar der Rektrix. Wir setzten uns an einen Tisch, auf dem eine Sanduhr stand. Der Sand rieselte. Ich nahm den Geruch von Lydias Parfüm wahr, wusste, dass sie vor uns im Zimmer gewesen war ...«
»Und Vilgefortz?«
»Stellte eine Frage.«
»Warum bist du kein Zauberer geworden, Geralt? Hat dich die Kunst niemals angezogen? Sag ehrlich.«
»Ehrlich: Sie hat.«
»Warum also bist du dem Ruf nicht gefolgt?«
»Ich hielt es für angebrachter, der Stimme der Vernunft zu folgen.«
»Das heißt?«
»Die jahrelange Arbeit im Hexerberuf hat mich gelehrt, Kräfte und Absichten aneinander zu messen. Weißt du, Vilgefortz, ich kannte einmal einen Zwerg, der als Kind davon träumte, ein Elf zu werden. Was meinst du, wäre er einer geworden, wenn er dem Ruf gefolgt wäre?«
»Soll das ein Vergleich sein? Wenn ja, dann ein durchweg unpassender. Der Zwerg konnte kein Elf werden. Weil seine Mutter keine Elfe war.«
Geralt schwieg lange.
»Nun ja«, sagte er schließlich. »Ich hätte es mir denken können. Du hast ein wenig in meinem Lebenslauf herumgestochert. Kannst du mir verraten, zu welchem Zweck?«
»Vielleicht« – der Zauberer deutete ein Lächeln an – »schwebt mir ein Bild in der Galerie des Ruhmes vor? Wir beide am Tisch, und auf einem Messingschildchen die Aufschrift: ›Vilgefortz von Roggeveen schließt den Pakt mit Geralt von Riva‹.«
»Das wäre eine Allegorie«, sagte der Hexer. »Betitelt ›Das Wissen triumphiert über die Unwissenheit‹. Ich würde ein realistischeres Bild vorziehen, mit dem Titel ›Vilgefortz erklärt Geralt, worum es geht‹.«
Vilgefortz legte die Finger beider Hände in Höhe des Mundes zusammen. »Ist das nicht offensichtlich?«
»Nein.«
»Hast du es vergessen? Das Bild, das mir vorschwebt, hängt in der Galerie des Ruhmes, dort werden es künftige Generationen betrachten, die genau wissen, worum es geht, welches Ereignis dargestellt ist. Auf dem Bild verständigen sich der gemalte Vilgefortz und der gemalte Geralt und kommen zu einer Übereinkunft, in deren Ergebnis Geralt nicht irgendeinem Ruf oder einer Neigung folgt, sondern seiner wahren Berufung und endlich in die Reihen der Magier eintritt und mit seinem früheren, nicht besonders sinnvollen und perspektivlosen Dasein Schluss macht.«
»Wenn ich mir vorstelle«, sagte der Hexer nach längerem Schweigen, »dass ich noch vor kurzem meinte, mich könne nichts mehr überraschen ... Glaub mir, Vilgefortz, ich werde mich lange an dieses Bankett und an diesen wundersamen Reigen von Ereignissen erinnern. Das ist wahrlich ein Bild wert. Titel: ›Geralt verlässt die Insel Thanedd und kann vor Lachen nicht an sich halten‹.«
»Ich habe nicht verstanden.« Der Zauberer beugte sich leicht vor. »Ich habe in der Blumigkeit deiner Antwort, die reichlich mit auserlesenen Worten geschmückt war, die Orientierung verloren.«
»Die Gründe für das Unverständnis sind mir klar. Wir sind zu unterschiedlich, als dass wir einander verstehen könnten. Du bist der mächtige Magier vom Kapitel, der das Einssein mit der Natur erlangt hat. Ich bin ein Vagabund, ein Hexer, ein Mutant, der auf der Welt umherstreift und für Geld Ungeheuer erledigt ...«
»Die Blumigkeit«, unterbrach ihn der Zauberer, »ist von Banalität verdrängt worden.«
»Wir sind zu unterschiedlich«, fuhr Geralt unbeirrt fort. »Und die Kleinigkeit, dass meine Mutter zufällig eine Zauberin war, kann diesen Unterschied auch nicht aufheben. Aber aus reiner Neugier: Wer war deine Mutter?«
»Ich habe keine Ahnung«, sagte Vilgefortz ruhig.
Augenblicklich verstummte Geralt.
»Die Druiden vom Kovir-Kreis«, fuhr der Zauberer nach einem Moment fort, »haben mich in Lan Exeter im Rinnstein gefunden. Sie haben sich meiner angenommen und mich großgezogen. Zum Druiden, versteht sich. Weißt du, was ein Druide ist? Das ist so eine Art Mutant, ein Vagabund, der auf der Welt umherstreift und sich vor heiligen Eichen verneigt.«
Der Hexer schwieg.
»Und dann«, fuhr Vilgefortz fort, »kamen im Laufe gewisser Druidenrituale meine Fähigkeiten zum Vorschein. Fähigkeiten, die es erlauben würden, meine Herkunft offensichtlich und unbestreitbar zu bestimmen. Es hatten mich, natürlich zufällig, zwei Menschen gezeugt, von denen mindestens einer ein Zauberer war.«
Geralt schwieg.
»Derjenige, der meine bescheidenen Fähigkeiten entdeckte, war natürlich ein Zauberer, dem ich zufällig begegnet war«, fuhr Vilgefortz ruhig fort. »Und derselbe fand sich bereit, mir einen riesigen Gefallen zu tun: Er schlug mir vor, mich auszubilden und zu vervollkommnen, so dass ich später in die Bruderschaft der Magier eintreten könnte.«
»Und du«, sagte der Hexer tonlos, »hast den Vorschlag angenommen.«
»Nein.« Vilgefortz’ Stimme wurde immer kälter und unangenehmer. »Ich habe ihn auf unhöfliche, geradezu flegelhafte Weise abgelehnt. Ich habe meine ganze Wut auf den Alten abgeladen. Ich wollte, dass er sich schuldig fühlte, mitsamt seiner ganzen magischen Bruderschaft. Schuld natürlich an dem Rinnstein in Lan Exeter, schuld, dass ein schurkischer Magier oder ihrer zwei mich nach der Geburt statt vorher in diesen Rinnstein geworfen hatten. Der Zauberer, versteht sich, hat das, was ich ihm damals sagte, weder verstanden, noch hat es ihn gekümmert. Er hat mit den Schultern gezuckt und ist seiner Wege gegangen, womit er sich selbst und seinesgleichen als gefühllose, arrogante Hundesöhne abstempelte, die nichts als Verachtung verdienen.«
Geralt schwieg.
»Die Druiden hatte ich von ganzem Herzen satt«, fuhr Vilgefortz fort. »Also verließ ich die heiligen Eichenhaine und zog in die Welt hinaus. Ich tat verschiedene Dinge. Für manche schäme ich mich noch heute. Schließlich wurde ich Söldner. Mein weiteres Schicksal verlief, wie du dir denken kannst, wie üblich: siegreicher Soldat, geschlagener Soldat, Marodeur, Räuber, Vergewaltiger, Mörder, schließlich ein Flüchtling, der vor dem Strick ans Ende der Welt flieht. Ich floh ans Ende der Welt. Und dort, am Ende der Welt, lernte ich eine Frau kennen. Eine Zauberin.«
»Pass auf«, flüsterte der Hexer. »Pass auf, Vilgefortz, dass du die gesuchten Ähnlichkeiten nicht zu weit treibst.«
»Die Ähnlichkeiten haben schon ein Ende.« Der Zauberer senkte den Blick nicht. »Denn ich kam mit dem Gefühl nicht zurecht, das ich für jene Frau empfand. Ihre Gefühle verstand ich meinerseits nicht, und sie gab sich keine Mühe, mir dabei zu helfen. Ich habe sie verlassen. Weil sie promiskuitiv, arrogant, boshaft, gefühllos und kalt war. Weil ich sie nicht dominieren konnte, und mich ihr unterzuordnen war erniedrigend. Ich habe sie verlassen, weil ich wusste, dass sie sich nur für mich interessierte, weil meine Intelligenz, meine Persönlichkeit und das faszinierende Geheimnis, das mich umgab, die Tatsache verdeckten, dass ich kein Zauberer war, dabei pflegte sie ausschließlich Zauberern länger als eine Nacht ihre Gunst zu schenken. Ich habe sie verlassen, weil ... Weil sie wie meine Mutter war. Plötzlich wurde mir klar, dass meine Empfindung für sie gar keine Liebe war, sondern ein weitaus komplizierteres, starkes, aber schwer einzuordnendes Gefühl: eine Mischung von Furcht, Bedauern, Zorn, Gewissensbissen und Sühneverlangen, ein Gefühl von Schuld, Verlust und Kränkung, ein perverses Verlangen nach Leiden und Reue. Was ich für jene Frau empfand, war Hass.«
Geralt schwieg. Vilgefortz blickte zur Seite.
»Ich habe sie verlassen«, fuhr er nach einer Weile fort. »Und ich konnte nicht mit der Leere leben, die mich umfing. Und auf einmal ging mir auf, dass nicht das Fehlen einer Frau jene Leere hervorrief, sondern das Fehlen von dem, was ich seinerzeit gefühlt hatte. Paradox, nicht wahr? Ich brauche wohl nicht zu Ende zu erzählen, du kannst dir den weiteren Verlauf denken. Ich wurde Zauberer. Aus Hass. Und erst da begriff ich, wie dumm ich gewesen war. Ich hatte den Himmel mit den Sternen verwechselt, die sich nachts an der Oberfläche eines Teiches spiegeln.«
»Wie du zutreffend bemerkt hast, waren die Parallelen zwischen uns nicht vollends parallel«, murmelte Geralt. »Entgegen dem Anschein haben wir wenig miteinander gemein, Vilgefortz. Was wolltest du beweisen, indem du mir diese Geschichte erzähltest? Dass der Weg zu magischer Meisterschaft zwar steil und schwer ist, aber allen zugänglich? Sogar für, verzeih die Parallele, Bankerte und Findelkinder, Vagabunden oder Hexer ...«
»Nein«, unterbrach ihn der Zauberer. »Ich hatte nicht vor zu beweisen, dass dieser Weg allen zugänglich sei, denn das ist offensichtlich und längst bewiesen. Ebenso wenig bedurfte die Tatsache eines Beweises, dass es für gewisse Leute einfach keinen anderen Weg gibt.«
Der Hexer lächelte. »Also habe ich keinen Ausweg? Ich muss mit dir diesen Pakt schließen, der zum Thema eines Bildes werden soll, und Zauberer werden? Nur im Hinblick auf die Genetik? Na, na. Ich kenne die Vererbungslehre ein wenig. Mein Vater, den ich mit recht großer Mühe gefunden habe, war ein Vagabund, ein Simpel, Abenteurer und Schlagedrein. In meinen Genen kann also das Schwert überwiegen statt der Kunkel. Die Tatsache, dass ich mich auch nicht schlecht schlage, scheint das zu bestätigen.«
»In der Tat« – der Zauberer lächelte spöttisch –, »der Sand in der Uhr ist fast durchgelaufen, und ich, Vilgefortz von Roggeveen, Meister der Magie, Mitglied des Kapitels, unterhalte mich noch immer, und nicht ohne Vergnügen, mit einem Simpel und Schlagedrein, Sohn eines Simpels, Schlagedreins und Vagabunden. Wir sprechen von Dingen und Angelegenheiten, die, wie allgemein bekannt, das übliche Thema an den Lagerfeuern simpler Schlagedreins sind. Wie zum Beispiel Genetik. Woher kennst du überhaupt dieses Wort, mein Schlagedrein? Aus der Tempelschule in Ellander, wo sie einem beibringen, silbenweise zu lesen und vierundzwanzig Runen zu schreiben? Was hat dich bewogen, Bücher zu lesen, in denen man derlei Wörter finden kann? Wo hast du deine Rhetorik und Beredsamkeit geschliffen? Und wozu hast du das getan? Um mit Vampiren Konversation zu treiben? Du mein erblich belasteter Vagabund, dem Tissaia de Vries zulächelt. Du mein Hexer, Schlagedrein, der Philippa Eilhart derart fasziniert, dass ihr geradezu die Hände zittern. Bei dessen Erwähnung Triss Merigold rot anläuft. Von Yennefer von Vengerberg will ich gar nicht reden.«
»Es ist vielleicht gut, dass du nicht von ihr reden willst. In der Uhr ist praktisch so wenig Sand verblieben, dass man beinahe die Körner zählen kann. Male nicht noch mehr Bilder, Vilgefortz. Sag, worum es dir geht. Sag es mir in einfachen Worten. Stell dir vor, dass wir am Lagerfeuer sitzen, zwei Vagabunden, ein Ferkel braten, das wir eben erst gestohlen haben, und vergebens versuchen, uns mit Birkensaft zu betrinken. Es wird eine einfache Frage gestellt. Antworte. Von Vagabund zu Vagabund.«
»Wie lautet diese einfache Frage?«
»Was für einen Pakt schlägst du mir vor? Was für eine Übereinkunft sollen wir treffen? Warum möchtest du mich bei deinem Haufen haben, Vilgefortz? In deinem Kessel, wo es, wie mir scheint, zu kochen anfängt? Was liegt hier in der Luft?«
»Hmm.« Der Zauberer überlegte oder gab vor zu überlegen. »Die Frage ist nicht einfach, doch ich will eine Antwort versuchen. Aber nicht von Vagabund zu Vagabund. Ich werde antworten ... als ein gedungener Schlagedrein zum anderen, der ihm ähnlich ist.«
»Mag sein.«
»Also hör zu, Kamerad Schlagedrein. Es bahnt sich eine ordentliche Keilerei an. Ein Hauen und Stechen auf Leben und Tod, Pardon wird nicht gegeben. Die einen werden siegen, die anderen werden die Krähen fressen. Ich sag dir, Kumpel, schließ dich also denen an, die die besseren Chancen haben. Uns. Die anderen gib auf und spuck auf sie, denn sie haben überhaupt keine Chancen; wie kommst du denn dazu, zusammen mit denen unterzugehen? Nein, nein, Kumpel, mach keine krumme Miene, ich weiß ja, was du sagen willst. Du willst sagen, dass du neutral bist. Dass dir die einen wie die anderen am Arsch vorbeigehen, dass du einfach in den Bergen, in Kaer Morhen, warten wirst, bis die Keilerei vorbei ist. Das ist ein schlechter Einfall, Kumpel. Bei uns wird alles sein, was du liebst. Wenn du dich uns nicht anschließt, verlierst du das alles. Und dann verschlingen dich Leere, Sinnlosigkeit und Hass. Die Zeit der Verachtung, die heraufzieht, wird dich vernichten. Sei also vernünftig und stell dich auf die richtige Seite, wenn es heißt, deine Wahl zu treffen. Und treffen musst du sie. Das kannst du mir glauben.«
Der Hexer lächelte böse. »Unheimlich, in welchem Maße sich alle über meine Neutralität aufregen. In welchem Maße sie mich zum Gegenstand von Pakten und Vereinbarungen macht, von Angeboten zur Zusammenarbeit, von Belehrungen über die Notwendigkeit, eine Wahl zu treffen und mich auf die richtige Seite zu stellen. Beenden wir dieses Gespräch, Vilgefortz. Du vergeudest deine Zeit. Bei diesem Spiel bin ich für dich kein gleichrangiger Partner. Ich sehe keine Möglichkeit, wie wir uns beide auf einem Bild in der Galerie des Ruhmes wiederfinden könnten. Vor allem nicht auf einem Schlachtengemälde.«
Der Zauberer schwieg.
»Stell auf deinem Schachbrett Könige, Damen, Läufer und Türme auf«, fuhr Geralt fort, »kümmere dich nicht um mich, denn ich bedeute auf diesem Schachbrett nicht mehr als der Staub, der es bedeckt. Das ist nicht mein Spiel. Du behauptest, ich müsse meine Wahl treffen? Ich teile dir mit, dass du dich irrst. Ich werde nicht wählen. Ich werde mich den Ereignissen anpassen. Werde mich dem anpassen, was andere wählen. Das habe ich immer getan.«
»Du bist ein Fatalist.«
»Ja. Obwohl das noch so ein Wort ist, das ich nicht kennen sollte. Ich wiederhole, das ist nicht mein Spiel.«
»Wirklich nicht?« Vilgefortz beugte sich über den Tisch. »In diesem Spiel, Hexer, steht auf dem Schachbrett schon der schwarze Springer, der mit dir auf Gedeih und Verderb durch die Bande der Vorsehung verbunden ist. Du weißt, von wem ich spreche, nicht wahr? Du willst sie doch nicht verlieren? Wisse, dass es nur eine Möglichkeit gibt, sie nicht zu verlieren.«
»Was willst du von diesem Kind?«
»Es gibt für dich nur eine Möglichkeit, das zu erfahren.«
»Ich warne dich. Ich werde nicht erlauben, dass man ihr ein Leid antut ...«
»Es gibt nur eine Möglichkeit, das zu verhindern. Diese Möglichkeit habe ich dir vorgeschlagen, Geralt von Riva. Überleg dir mein Angebot. Du hast dazu die ganze Nacht. Überlege und blicke dabei zum Himmel. Zu den Sternen. Und verwechsle sie nicht mit denen, die sich an der Oberfläche des Teiches spiegeln. Die Sanduhr ist abgelaufen.«
»Ich habe Angst um Ciri, Yen.«
»Das brauchst du nicht.«
»Aber ...«
»Vertrau mir.« Sie umarmte ihn. »Vertrau mir bitte. Kümmere dich nicht um Vilgefortz. Das ist ein Spieler. Er wollte dich hintergehen, dich provozieren. Und teilweise ist es ihm gelungen. Doch das hat keine Bedeutung. Ciri steht unter meinem Schutz, und in Aretusa wird sie in Sicherheit sein, sie wird hier ihre Fähigkeiten entwickeln können, und niemand kann sie daran hindern. Niemand. Dass aus ihr eine Hexerin geworden ist, musst du aber vergessen. Sie hat andere Talente. Und sie ist zu anderem vorherbestimmt. Du kannst mir glauben.«
»Ich glaube dir.«
»Das ist ein erheblicher Fortschritt. Und um Vilgefortz kümmere dich nicht. Der morgige Tag wird viele Dinge klären und viele Probleme lösen.«
Der morgige Tag, dachte er. Sie verbirgt etwas vor mir. Und ich habe Angst zu fragen. Codringher hatte recht. Ich bin in eine widerwärtige Intrige verstrickt. Doch jetzt habe ich keinen Ausweg. Ich muss abwarten, was dieser morgige Tag bringt, der angeblich alles klären soll. Ich muss ihr vertrauen. Ich weiß, dass etwas passieren wird. Ich werde abwarten. Und mich der Situation anpassen.
Er schaute zum Schreibtisch hin.
»Yen?«
»Ja.«
»Als du in Aretusa gelernt hast ... Als du in einem Zimmerchen wie diesem geschlafen hast ... Hattest du da eine Puppe, ohne die du nicht hättest einschlafen können? Die du tagsüber auf den Schreibtisch gesetzt hast?«
»Nein.« Yennefer machte eine heftige Bewegung. »Ich hatte überhaupt keine Puppe. Frag mich nicht danach, Geralt. Ich bitte dich, frag nicht.«
»Aretusa«, flüsterte er, während er sich umschaute. »Aretusa auf der Insel Thanedd. Ihr Zuhause. Für so viele Jahre ... Wenn sie von hier weggeht, wird sie eine reife Frau sein.«
»Hör auf. Denk nicht dran und rede nicht davon. Stattdessen ...«
»Was, Yen?«
»Liebe mich.«
Er umarmte sie. Berührte sie. Fand sie. Yennefer, auf unglaubliche Art zugleich weich und hart, seufzte tief. Die Worte, die sie aussprachen, rissen ab, versanken in Stöhnen und beschleunigtem Atem, hatten keine Bedeutung mehr, wurden leer. Also verstummten sie, konzentrierten sich darauf, einander zu suchen, die Wahrheit zu suchen. Sie suchten lange, zärtlich und sehr gründlich, fürchteten unangebrachte Eile, Leichtfertigkeit und Nonchalance. Sie suchten heftig, intensiv und selbstvergessen, fürchteten ketzerischen Zweifel und Unentschlossenheit. Sie suchten vorsichtig, fürchteten ketzerischen Mangel an Feingefühl.
Sie fanden einander, bezwangen die Furcht, und im Augenblick darauf fanden sie die Wahrheit, die ihnen als frappierende, blendende Selbstverständlichkeit unter den Lidern explodierte, die entschlossen zusammengepressten Lippen mit einem Seufzer aufriss. Und da erzitterte die Zeit krampfhaft und blieb stehen, alles verschwand, und als einzig fortwirkender Sinn blieb die Berührung.
Eine Ewigkeit verstrich, die Wirklichkeit kehrte zurück, und abermals erzitterte die Zeit und nahm ihren Lauf wieder auf, langsam, schwerfällig wie ein großer beladener Wagen. Geralt schaute aus dem Fenster. Der Mond hing noch immer am Himmel, obwohl das, was vor einem Moment geschehen war, ihn auf die Erde hätte stürzen lassen müssen.
»Jechen, je«, sagte Yennefer nach einer Weile und strich sich mit einer langsamen Bewegung eine Träne von der Wange.
Sie lagen reglos in dem zerwühlten Bett, inmitten des Schauders, inmitten der dampfenden Wärme und des verlöschenden Glücks, inmitten des Schweigens, und ringsum ballte sich eine undeutliche Dunkelheit, erfüllt vom Geruch der Nacht und von den Stimmen der Zikaden. Geralt wusste, dass die telepathischen Fähigkeiten der Zauberin in solchen Augenblicken besonders empfindlich und stark waren, also dachte er intensiv an schöne Dinge und Angelegenheiten. An Dinge, die ihr Freude machen sollten. An die ausbrechende Helligkeit eines Sonnenaufgangs. An den Nebel, der im Morgengrauen über einem Bergsee hängt. An kristallklare Wasserfälle, durch die Lachse springen, so glänzend, als seien sie aus gegossenem Silber. An warme Regentropfen, die auf die tauschweren Blätter von Kletten auftreffen.
Er dachte für sie. Yennefer lächelte, während sie seinen Gedanken lauschte. Das Lächeln zitterte auf ihrer Wange als Mondschatten der Wimpern.
»Ein Haus?«, fragte Yennefer plötzlich. »Was für ein Haus? Du hast ein Haus? Du willst ein Haus bauen? Ach ... entschuldige. Ich sollte nicht ...«
Er schwieg. Er war wütend auf sich. Während er für sie gedacht hatte, hatte er ihr unwillkürlich erlaubt, einen Gedanken an sie zu lesen.
»Ein schöner Traum.« Yennefer strich ihm sanft über den Rücken. »Ein Haus. Ein eigenhändig gebautes Haus, darin du und ich. Du würdest Pferde und Schafe halten, ich den Garten versorgen, Essen kochen und Wolle kämmen, die wir zum Markt bringen würden. Für das bisschen Geld, das wir für die verkaufte Wolle und verschiedene Früchte des Bodens erhielten, würden wir uns kaufen, was wir brauchen, sagen wir, kupferne Kochtöpfe und eiserne Rechen. Des öfteren würde uns Ciri mit ihrem Mann und drei Kindern besuchen, von Zeit zu Zeit würde Triss Merigold vorbeischauen, um ein paar Tage zu bleiben. Wir würden schön und in Würde alt werden. Und wenn ich mich langweilte, würdest du mir abends etwas auf einem selbstgebauten Dudelsack vorspielen. Das Spiel auf dem Dudelsack ist bekanntlich das beste Mittel gegen Trübsal.«
Der Hexer schwieg. Die Zauberin räusperte sich leise.
»Entschuldige«, sagte sie nach einer Weile.
Er stemmte sich auf den Ellenbogen hoch, beugte sich herüber, küsste sie. Sie bewegte sich heftig, umarmte ihn. Schweigend.
»Sag was.«
»Ich möchte dich nicht verlieren, Yen.«
»Du hast mich doch.«
»Diese Nacht wird zu Ende gehen.«
»Alles geht zu Ende.«
Nein, dachte er. Ich will nicht, dass es so ist. Ich bin müde. Zu müde, um die Aussicht auf Enden zu akzeptieren, die Anfänge sind, wo man alles von vorn beginnen muss. Ich möchte ...
»Sag nichts.« Mit einer raschen Bewegung legte sie ihm die Finger auf den Mund. »Sag mir nicht, was du möchtest und was du dir wünschst. Denn es könnte sich erweisen, dass ich deine Wünsche nicht zu erfüllen vermag, und das tut mir weh.«
»Und was wünschst du dir, Yen? Wovon träumst du?«
»Nur von erreichbaren Dingen.«
»Und ich?«
»Dich hab ich schon.«
Er schwieg lange. Und schließlich brach sie das Schweigen.
»Geralt?«
»Mhm?«
»Liebe mich, bitte.«
Anfangs, voneinander erfüllt, waren sie beide reich an Phantasie und Erfindungsgabe, voller Einfälle, auf Entdeckungen aus und begierig auf Neues. Wie üblich zeigte sich alsbald, dass das zugleich zu viel und zu wenig war. Sie verstanden das gleichzeitig und erwiesen einander abermals ihre Liebe.
Als Geralt wieder zu sich kam, war der Mond immer noch an seinem Platz. Die Zikaden zirpten eifrig, als wollten auch sie mit Wahnsinn und Vergessenheit gegen Unruhe und Furcht ankämpfen. Aus einem nahen Fenster im linken Flügel von Aretusa schrie jemand, der schlafen wollte, und verlangte fluchend Ruhe. Aus einem Fenster auf der anderen Seite applaudierte, offensichtlich eine kunstbeflissenere Natur, jemand enthusiastisch und gratulierte.
»Ach, Yen ...«, flüsterte der Hexer vorwurfsvoll.
»Ich hatte einen Grund ...« Sie küsste ihn und drückte dann die Wange ins Kissen. »Ich hatte einen Grund zu schreien. Also habe ich geschrien. Das soll man nicht unterdrücken, es wäre ungesund und unnatürlich. Umarme mich, wenn du kannst.«